Gekapert und ideologisiert

Eine Ausstellung über NS-Opfer in Russland

01.12.2024 - Kategorie: Ausstellung
Bild
Das Bild zeigt ein Denkmal in einer parkähnlichen Umgebung. Im Mittelpunkt steht eine schlichte, rechteckige, vertikale Stele aus grauem Metall oder Stein. Vor der Stele verläuft auf dem Boden ein schmaler Streifen aus dem gleichen Material, der wie ein Schatten wirkt. Die Umgebung ist herbstlich: Der Boden ist mit bunten Blättern bedeckt, und im Hintergrund stehen Bäume mit teils gelbem, teils grünem Laub. Hinter den Bäumen sind Gebäude mit roten Dächern und gelblichen Fassaden zu sehen, die an historische
Screenshot aus einem Video zur Ausstellung "Vergesst uns nicht" https://nsvictims.ru/vergesst/brandenburg-an-der-havel/

Der folgende Text von Dr. Irina Rebrova erschien zuerst in der Zeitschrift Osteuropa, 74. Jg., 5/2024, S. 185–196. doi: 10.35998/oe-2024-043.
Wir danken den Herausgebern.

Die Wanderausstellung „Pomni o nas . . .“ („Erinnere dich an uns . . .“) über den nationalsozialistischen Massenmord an Menschen mit Behinderungen im Nordkaukasus 1942/1943 sollte der Öffentlichkeit in Russland das Schicksal einer kaum beachteten Opfergruppe ins Bewusstsein rufen. Sie wurde von 2018 bis 2021 in Russland gezeigt. 2022 kam es zur „feindlichen Übernahme“ der Ausstellung durch eine russländische Stiftung. Diese verdrehte die Inhalte: Nun soll die Ausstellung das Narrativ vom„Genozid am sowjetischen Volk“ verbreiten und vor dem Hintergrund von Russlands Krieg gegen die Ukraine das „verbrecherische“ Wesen des „faschistischen“ Feindes illustrieren.

Dass die Geschichte eine „politische Prostituierte“ sei, vernahm ich Anfang der 2000erJahre an einer Universität in Russland aus dem Munde eines Professors für Russländische Geschichte des 20. Jahrhunderts. Damals verband ich wenig mit dem Begriff „politische Prostituierte“. Erst später wurde mir klar, dass die Bolschewiki ihn im vor- und nachrevolutionären Russland verächtlich auf politische Gegner anwandten1 Bezogen auf das, was heute in Russland geschieht, ist die Feststellung dieses Hochschullehrers aktueller denn je. Geschichte dient dem Staat als politisches Instrument zur Förderung des Patriotismus, zur Mobilisierung der Nation im Kampf gegen den äußeren„Feind“ und zur Konsolidierung der Macht des Regimes. Zu diesem Zweck werden Schulbücher umgeschrieben, propagandagetränkte „patriotische“ Dokumentar- und Spielfilme produziert und von der offiziellen geschichtspolitischen Linie abweichende Bücher aus dem Verkehr gezogen. In der staatlichen Erinnerungspolitik spielen der„Große Vaterländische Krieg“ 1941–1945 und der große Sieg des sowjetischen Volkes über den „Faschismus“ die zentrale Rolle. Dieses geschichtliche Ereignis ist im kollektiven Bewusstsein der Bevölkerung Russlands tief verankert.2
Seit Anfang der 2010er Jahre haben die immer schon pompösen Feiern zum Tag des Sieges am 9. Mai in der Russländischen Föderation einen nahezu sakralen Charakter angenommen. In einem wahren „Siegeswahn“ (pobedobesie)3 geraten solche Veranstaltungen in Russland zu einer Art politischer „Katharsis“, bei der die Teilnehmer zu einem unkritischen Kollektiv verschmelzen und die historische Essenz in den Hintergrund rückt. Ende 2018 initiierte die im Jahr 2013 gegründete Organisation „Poiskovoe dviženie Rossii“ (Suchbewegung Russlands), die sich unter anderem um die Suche und Identifizierung gefallener sowjetischer Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg kümmert undzu einem wichtigen geschichtspolitischen Akteur in Russland geworden ist, das Projekt„Bez sroka davnosti“ (Ohne Verjährungsfrist).4 Es wird vom Staat gefördert und hat sich zu einem Sprachrohr des Regimes entwickelt. Ein Ziel dieser geschichtspolitischen Kampagne ist es,


die historische Erinnerung an die Tragödie der Zivilbevölkerung der UdSSR, der Opfer der Kriegsverbrechen der Nazis und ihrer Komplizen während des Großen Vaterländischen Krieges zu bewahren.5

Insbesondere dient sie dazu, die Verbrechen der deutschen Besatzer als „Genozid am sowjetischen Volk“, „Genozid an den Völkern der Sowjetunion“ oder „Genozid an den slawischen Völkern“ zu interpretieren. Damit soll die Heldenerzählung vom „Großen Vaterländischen Krieg“ mit der Anerkennung des unikalen Opferstatus der sowjetischen Bevölkerung in Einklang gebracht werden.6Im Rahmen des Projekts „Ohne Verjährungsfrist“ sind gut zwei Dutzend Sammelbände mit Dokumenten zu NS-Verbrechen auf dem Gebiet der Russländischen SozialistischenFöderativen Sowjetrepublik (RSFSR), geordnet nach einzelnen Regionen, erschienen.7Die Geschichte des Holocaust in den besetzten Gebieten der RSFSR, die dank der Arbeit lokaler Historikerinnen und Historiker sowie von Mitgliedern jüdischer Gemeinden seit den 1990er Jahren recht gut erforscht ist,8 wird kaum thematisiert, obwohl die Bände Quellen zur systematischen Vernichtung der Jüdinnen und Juden enthalten. Dafür gibt es in vielen Bänden ein separates Kapitel „Die Vernichtung von Bürgern in Krankenhäusern und anderen medizinischen Einrichtungen“, in dem Quellen zum Massenmord an dieser spezifischen NS-Opfergruppe, darunter vor allem Menschen mit Behinderungen, präsentiert und eingeordnet werden.
Bis vor wenigen Jahren war die Geschichte der systematischen Ermordung von Menschen mit Behinderungen auf dem Territorium der RSFSR unter deutscher Besatzung kaum erforscht und hatte keinen Platz in der offiziellen Erinnerung an zivile NS-Opfer. Erstmals wurde das Thema in der Wanderausstellung „Pomni o nas . . .“(„Erinnere dich an uns…“)9 behandelt, die zwischen 2018 und 2021 in Russland gezeigtwurde. Diese Ausstellung, die auf Deutsch „Vergesst uns nicht . . .“ heißt, beschäftigt sich zum einen mit dem Massenmord an Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen sowie an jüdischen Ärztinnen und Ärzten unter der nationalsozialistischen Besatzung des Nordkaukasus und zum anderen mit der Erinnerung an diese Verbrechen.10 Entgegen der ursprünglichen Intention der Kuratorin, eine bislang kaum beachtete Opfergruppe der NS-Herrschaft in Osteuropa in den Fokus zu rücken, wurde die Ausstellung 2022 von der russländischen Seite vereinnahmt und in den Dienst der neuen Doktrin vom „Genozid an den Völkern der Sowjetunion“ und der „patriotischen“ Erziehung der jungen Generation gestellt: Es handelt sich um den eklatanten Fall einer „Prostituierung“ der Geschichte. 

Das Ausstellungsprojekt „Pomni o nas . . .“

Die Suche nach Quellen für die Wanderausstellung zur Geschichte der Massentötungen von Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen sowie von jüdischenÄrzten im südlichsten Teil der RSFSR 1942/1943 entpuppte sich als herausfordernde Aufgabe: Die offizielle Geschichtsschreibung in der Sowjetunion und in Russland hob aus der Masse der „friedlichen Sowjetbürger“ nur sehr beschränkt spezifische Gruppen von NS-Opfern hervor. Die Ausstellung sollte wenigstens einem Teil der Abertausenden von vergessenen Opfern der deutschen Besatzungsherrschaft eine Stimme geben. Der Fokus richtete sich auf Opfer im medizinischen Sektor: auf ermordete Patientinnen und Patienten psychiatrischer Kliniken, Kinder mit körperlichen und geistigen Beeinträchtigungen, die in speziellen medizinischen Einrichtungen behandelt wurden, sowie jüdische Mediziner, die im Nordkaukasus unter deutsche Besatzung gerieten und Opfer des Holocaust wurden.11
Die Ausstellung umfasst zwei Teile. Der erste Teil stellt die allgemeine Geschichte der Massentötungen von Menschen mit geistigen Erkrankungen im Deutschen Reich im Rahmen der „Aktion T4“12 und die NS-Politik gegenüber dieser Opfergruppe in den besetzten Gebieten der Sowjetunion dar. Einzelne Fälle veranschaulichen die massenhafte Tötung von erwachsenen und minderjährigen Patientinnen und Patienten psychiatrischer Kliniken in Rostov am Don, Krasnodar, Novočerkassk, Taganrog, Stavropol’, Ejsk (Jejsk) und im Dorf Tret’ja Rečka Kočety sowie die Ermordung körperlich beeinträchtigter oder an Knochentuberkulose erkrankter Kindern in Novočerkassk, in Ejsk und im Kurort Teberda.13 Nach neuesten Erkenntnissen wurden im besetzten Nordkaukasus etwa 2800 Menschen mit Behinderungen ermordet.14 Daneben behandelt die Ausstellung das Schicksal jüdischer Mediziner, die dem Holocaust zum Opfer fielen. Sie erinnert zum einen an einheimische Ärzte aus den jüdischen Gemeinden in der Region, insbesondere aus Rostov am Don. Zum anderen richtet sich der Blick auf die in den Nordkaukasus evakuierten jüdischen Ärzte, beispielsweise aus der Medizinischen Hochschule in Stavropol’ (1935–1943 Vorošilovsk).

Im zweiten Teil der Ausstellung liegt das Augenmerk auf der Art und Weise, wie in der Sowjetunion und im postsowjetischen Russland der Opfergruppen Patienten und Ärzte gedacht wurde und wird. In der UdSSR entstanden erst in den 1980er Jahren auf Initiative Einzelner schlichte Denkmäler zur Erinnerung an Menschen mit Behinderungen. Seit dem Zerfall der Sowjetunion und der Öffnung der Archive beteiligen sich Lokalhistoriker sowie Mitglieder der jüdischen Gemeinden – unter Billigung der örtlichen Behörden oder zumindest unbehindert von diesen – an dieser Erinnerungsarbeit. Die Ergebnisse sind in die Ausstellung eingeflossen. Die Ausstellung „Pomni o nas . . .“ wurde im Dezember 2018 eröffnet und bis Sommer 2021 in über 30 Städten in Russland gezeigt; nach offiziellen Angaben hatte sie über 70 000 Besucher.15Das Projekt war insofern einzigartig, als die Ausstellung nicht nur über die nationalsozialistischen Verbrechen an Menschen mit Behinderungen und an jüdischen Ärzten als Holocaust-Opfer informierte, sondern auch auf lokale Initiativen aufmerksam machte, die das Gedenken an diese Opfergruppen pflegen.

Rezeption und Vermittlung der Ausstellungsinhalte in Russland

Die umfangreiche Medienberichterstattung über das Projekt deutet darauf hin, dass Russland allmählich Menschen mit Behinderungen als spezielle NS-Opfergruppe in seine offizielle Erinnerungspolitik einbezieht.16Die Gästebücher der Ausstellung sind voll mit Reaktionen und Gedanken von Besuchern. Das Ausstellungsthema war für viele Menschen neu, obwohl die Verbrechen der „Faschisten“ an „friedlichen Sowjetbürgern“ dank ständiger Wiederholungen in Russlands Medien natürlich im Bewusstsein der Bevölkerung verankert sind. Aus vielen Einträgen in den Gästebüchern spricht Empörung über die „ungeheuerlichen Verbrechen der Faschisten“, die sich in ihrer Niedertracht gerade die Unschuldigsten und Schwächsten unter den „friedlichen sowjetischen Bürgern“ zum Opfer erwählt hätten.17 Hier wirkt weiterhin das sowjetische Gedächtnismodell, das jedoch auf neues, noch nicht reflektiertes Wissen angewandt wird. Viele Besucher begreifen die Kernaussage der Ausstellung nicht, machen sich nicht klar, dass diese Menschen mit Behinderungen von den nationalsozialistischenBesatzern nicht deswegen getötet wurden, weil sie besonders schwach waren und keinen Widerstand leisten konnten, sondern dass sie aus rassisch-ideologischen Motiven umgebracht wurden.
Die Ausstellungs-Guides in Russland gingen zunächst eher oberflächlich auf das Thema „Menschen mit Behinderungen und jüdische Mediziner als Opfer des NS-Besatzungsregimes“ ein und erzählten stattdessen – entsprechend der offiziellen Erinnerungskultur – oftmals entweder Geschichten über die heroische Verteidigung der Heimatorte oder über die Ermordung von Partisanen und Kommunisten, die in der Sowjetunion zu lokalen Helden wurden. Um das Personal der Ausstellung besser zu schulen, entwickelte die Kuratorin der Ausstellung didaktische Materialien. 2019 erschien ein Ausstellungskatalog, der neben den Texten, die auf den Schautafeln der Ausstellung zu lesen waren, auch Aufsätze lokaler Historikerinnen und Historiker zu einzelnen Aspekten der Ausstellung enthielt. Der Katalog bot vertiefte Informationen, um Zusammenhänge besser verstehen zu können.182020 entstand ein Dokumentarfilm über die Ausstellung, der auf dem YouTube-Kanal des Projekts veröffentlicht ist.19Fortan wurde der Film in das offizielle Veranstaltungsprogramm am jeweiligen Ausstellungsort aufgenommen. 2021 wurden die Schautafeln der Ausstellung in Form von Informationsplakaten reproduziert, die regionale Museen, Bibliotheken und Vereine kostenlos nutzen können.20 So war es möglich, die Ausstellung „Pomni o nas . . .“ auch nach dem offiziellen Ende der Finanzierung des Projekts in verschiedenen Städten Russlands zu zeigen. Die Berichterstattung auf Instagram half, neue Ausstellungsorte finden.21 Die Ausstellung gewann nach 2021 erheblich an Reichweite.

Vereinnahmung des Projekts

Mit der massiven Invasion Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 kamen alle Aktivitäten zur Bewerbung der Ausstellung in Russland zum Erliegen: Instagram wurde verboten. Die Zusammenarbeit mit Museen und Bibliotheken wurde unmöglich, obwohl die öffentliche Resonanz auf die Ausstellung sehr positiv war. Einige regionale Experten von „Pomni o nas . . .“ stellten bei Gedenkveranstaltungen weiterhin die Ausstellungsplakate aus und informierten die lokale Bevölkerung über diese Gruppe von NS-Opfern. Behörden und Propagandisten instrumentalisierten jedoch nun dieAusstellung für ihre Zwecke. Bis heute wird die Ausstellung gezeigt, allerdings ohne Mitwirkung der Kuratorin. Alle Versuche, ihr Urheberrecht geltend zu machen und die Nutzung ihres Projekts unter den veränderten Bedingungen zu unterbinden, blieben erfolglos. 2022 erhielt die Stiftung Vol’noe delo – Jug („Freie Sache – Süd“) des Oligarchen Oleg Deripaska Mittel aus der Stiftung für Präsidialzuschüsse (Fond presidentskich grantov), um die Ausstellung „Pomni o nas . . .“ fortzuführen.22 Die Leiterin von Vol’noe delo –Jug, Anna Pridnja, hatte 2021 vereinbarungsgemäß eine digitale Version der Plakate zur Verfügung gestellt bekommen, um die Ausstellung in einer Reihe von Bezirken der Region Krasnodar präsentieren zu können. Nachdem sich dies 2021 nicht hatte realisieren lassen, wurde die Vereinbarung aufgekündigt. Als die Stiftungsleiterin 2022 ihre Absicht erklärte, den Plan doch noch umzusetzen, hatte Russland bereits seine Großinvasion in die Ukraine gestartet. Die Ausstellungskuratorin erklärte daraufhin, dass sie es ablehne, künftig mit einer russländischen Organisation zusammenzuarbeiten, die Russlands Invasion in die Ukraine unterstützt. Zu der Zeit stand Stiftungsgründer Deripaska noch nicht auf der Sanktionsliste der EU. Er äußerte sich auch nicht öffentlich zur Lage in der Ukraine. Anna Pridnja wiederum versicherte, dass die Vergangenheit im Allgemeinen und die Ausstellung „Pomni o nas . . .“ nichts mit der aktuellen Situation zu tun hätten. Die Ausstellung sei weiterhin wichtig, da sie helfe, russländischen Jugendlichen Wissen über den Zweiten Weltkrieg zu vermitteln.23 Im Nachhinein stellte sich heraus, dass dies eine Vorspiegelung falscher Tatsachen war: Die Stiftung Vol’noe delo – Jug hatte die Fördermittel für die Präsentation der Ausstellung in eigenem Namen und ohne Einwilligung der Kuratorin bei der Stiftung für Präsidialzuschüsse beantragt und erhalten. Im Antrag wurde auf die Relevanz des Projektes im Kontext der „Ereignisse, die sich derzeit auf der weltpolitischen Bühne abspielen“, verwiesen und „die das Problem der Verfälschung und Verzerrung der Geschichte des Großen Vaterländischen Krieges im postsowjetischen Raum und der Revision der Resultate des Zweiten Weltkriegs und der Verherrlichung des Nazismus aufwerfen“.24 Die Ausstellung, die den Blick auf eine ganz spezifische Gruppe von Opfern des Zweiten Weltkriegs richten wollte, wurde so zu einer Geisel der russländischen Geschichtspolitik: Im heutigen Russland muss der Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ als Grundlage für die Stärkung des russländischen Patriotismus und den Glauben an einen Sieg über die „ukrainischen Nazis“ herhalten. Von Sommer bis Dezember 2022 zeigte die Stiftung Vol’noe delo – Jug die Ausstellung„Pomni o nas . . .“ in sechs Bezirken der Region Krasnodar. Offiziell hatte sie rund 20 000 Besucher.25 Verschwiegen wurde, dass das aus deutschen Mitteln geförderte Projekt von der Deripaska-Stiftung mit stillschweigender Zustimmung der Stiftung für Präsidialzuschüsse de facto vereinnahmt worden war. Weder im Antrag noch im Abschlussbericht wurde der Name der Kuratorin des Projekts genannt. Das gilt auch für das Gros der Publikationen über die Durchführung der Ausstellung in der Region Krasnodar.26 Proteste der Kuratorin bei der Stiftung für Präsidialzuschüsse verhallten ungehört. Verweise auf das Urheberrecht der Autorin der Ausstellung kontert dieStiftung unter Verweis auf Artikel 1724 des Zivilgesetzbuchs der Russländischen Föderation, der „die freie Nutzung eines Werks zu Informations-, wissenschaftlichen,Bildungs- oder kulturellen Zwecken“ erlaubt.27 Manche Medienberichte nennen die russische Historikerin Irina Akulič, die mit Vol’noe delo – Jug kooperiert, als „Leiterin des Projekts“. Bisweilen ist zu lesen, für das Projekt „Pomni o nas . . .“ hätten verschiedene Wissenschaftler und Forscher bislang unzugängliches Quellenmaterial zu NS-Verbrechen aus Archiven Russlands, Deutschlands, Israels, Moldovas, der USA und anderer Länder zusammengetragen.28In Wirklichkeit beruht das gesamte Projekt ausschließlich auf den persönlichen Recherchen der Verfasserin in staatlichen und privaten Archiven in diesen Ländern.29Seit 2022 stellen russländische Medien die Ausstellung „Pomni o nas . . .“ so dar, als wäre sie Teil des Projekts „Ohne Verjährungsfrist“.30 Dies entspricht nicht dem ursprünglichen Ziel der Ausstellung: Sie sollte das Schicksal der Angehörigen einer spezifischen Gruppe von Opfern der nationalsozialistischen Besatzer im Nordkaukasus einer breiten Öffentlichkeit vor Augen führen. Dieses Ziel ist seit der „Kaperung“ des Projekts durch Vertreter russländischer offizieller Institutionen weitgehend aus dem Blick geraten; die Ausstellung dient nun nur noch als Instrument, um die These vom „Genozid an den Völkern der Sowjetunion“ zu belegen. An jeder Begleitveranstaltung der Ausstellung sind nun Repräsentanten der örtlichen Verwaltung und der „Poiskovoedviženie Rossii“ beteiligt. Die Ausstellungstafeln sind zur Kulisse für „patriotische“ Gespräche über die Entdeckung und Identifizierung verschollener Soldaten und getöteter Zivilisten geworden. Ab 2021 suchte eine von der Deripaska-Stiftung unterstützte Suchmannschaft nach den Überresten von Kindern mit Behinderungen aus der regionalen Kinderklinik im Dorf Tret’ja Rečka Kotčety (heute Suvorovskoe), doch führten die Ausgrabungen nicht zu dem erwarteten Ergebnis.31Dies hielt lokale Suchgruppen nicht davon ab, ihre Aktivitäten auszuweiten, die weit über die Suche nach Massengräbern mit den Leichen von Menschen mit Behinderungen hinausgehen. Am 19. Dezember 2022 fand in Ust’-Labinsk die erste regionale Tagung „Erinnerung und Pflicht“ (Pamjat’ i dolg) statt, die dem Projekt „Ohne Verjährungsfrist“ gewidmet war. Sie stellte gleichzeitig die Finissage der Ausstellung „Pomni o nas . . .“ dar. An derTagung nahmen neben Historikern, Archivaren und Museumsmitarbeitern auch Vertreter staatlicher Behörden und des Ermittlungskomitees der Russländischen Föderation sowie Mitglieder der wichtigsten „Suchorganisationen“ und der Jugendarmee (Junarmija) teil. Das Tagungsziel bestand darin, in der Region Krasnodar eine zentrale Datenbank „mit den Ergebnissen von [Such-]Expeditionen, Archivmaterial, Namen und Geschichten von Menschen, die die Schrecken der Besatzung während des Großen Vaterländischen Krieges überlebt haben“, zu schaffen.32Politische Kräfte vor Ort vereinnahmen also regelmäßig und gerne die Ausstellung „Pomni o nas . . .“. 

Instrumentalisierung des Behindertenthemas

Die Instrumentalisierung des Projekts hat unterschiedliche Formen angenommen. Es sind keineswegs nur staatliche und staatsnahe Akteure, die es für ihr Anliegen zu nutzen versuchen. In Rostov am Don instrumentalisierte eine Journalistin des unabhängigen journalistischen Non-Profit-Projekts Coda die Ausstellung. Dass die Eröffnung der Ausstellung „Pomni o nas . . .“ 2018 in Rostov am Don stattfand, war kein Zufall: Die Rostover Regionalabteilung der Allrussländischen Gesellschaft zum Schutz von Geschichts- und Kulturdenkmälern (VOOPIiK) war der russländische Hauptpartner des Ausstellungsprojekts. Die Veranstaltung fand im Wissenschaftlichen Hochschulzentrum Nordkaukasus der Südlichen Föderalen Universität statt. Es handelt sich um einen historischen Ort. Hier war während des Zweiten Weltkriegs eine psychiatrische Klinik untergebracht. Angehörige des Sonderkommandos 10a der Einsatzgruppe D der Sicherheitspolizei und des SD ermordeten 72 Patienten durch Kohlenmonoxid in einem Gaswagen. Die Ausstellung weckte das Interesse zahlreicher regionaler Medien, darunter das unabhängige Portal Coda.33 Aber auch Coda stellte die Ausstellung „Pomni o nas . . .“ fälschlicherweise als ein Projekt dar, das in Russland nicht akzeptiert werde. Die Ausstellung finde „quasi im Geheimen“ statt und erhalte kaum Aufmerksamkeit.34 Das entsprach nicht der Wahrheit. Im Gegenteil waren im Dezember 2018 Dutzende Medienberichte in regionalen Zeitungen und im Internet über das Projekt und die Ausstellung erschienen.35 Die Coda-Journalistin bezog sich auf sowjetische Erfahrungen mit der Stigmatisierung von Patienten psychiatrischer Kliniken, um zu zeigen, dass die Gesellschaft in Russland noch nicht bereit sei, sich mit solchen Themen auseinanderzusetzen. Tenor des Beitrags war, es gebe in Russland keinen Platz für Toleranz und Inklusion, vielmehr sei das „sowjetische Erbe“ spürbar, denn heute wie damals würden psychiatrische Themen marginalisiert.36 Dadurch verlagerte sich der Fokus von der Tatsache, dass die Ausstellung einer spezifischen Gruppe von Opfern der NS-Besatzung während des Zweiten Weltkriegs gewidmet war, hin zur Stigmatisierung von „geistig Kranken“ und der Vertuschung ihrer Probleme im Russland von heute. Solche Dinge anzusprechen, ist zweifellos wichtig und notwendig, da Inklusion in Russland immer noch ein Randthema ist und es kaum Programme zur Integration von Menschen mit geistigen und körperlichen Einschränkungen gibt. In diesem Sinne war die Ausstellung nicht nur ein wichtiger Beitrag zur Änderung der Haltung gegenüber dieser speziellen Opfergruppe der NS-Vernichtungspolitik, sondern sie bot auch die Gelegenheit, über die Situation von Menschen mit Behinderungen im heutigen Russland nachzudenken. Das Problem war nur, dass der Inhalt des Artikels das Ausstellungsprojekt nicht als solches in den Blick rückte, sondern dass es der Coda-Journalistin allein als Aufhänger für ihr Thema diente.

„Kaperung“ der Erinnerung

Ein weiteres Beispiel dafür, wie russländische Behörden die Ausstellung „kaperten“, bietet der Fall Ejsk. In dieser Stadt in der Region Krasnodar wurde die Ausstellung „Pomni o nas . . .“ 2019 mit Förderung der deutschen Stiftung „Erinnerung, Verantwortung und Zukunft“ (EVZ) gezeigt. Die Eröffnung fand am 9. Oktober statt, dem jährlichen Tag des Gedenkens an die 214 Kinder mit Behinderungen aus dem Kinderheim Ejsk, die 1942 vonAngehörigen des Sonderkommandos 10a der Einsatzgruppe D in einem Gaswagen umgebracht worden sind.37 38Diese Geschichte war bereits zu sowjetischer Zeit bekannt, doch wurden in der UdSSR und bis 2019 auch in Russland die geistigen und körperlichen Behinderungen der Kinder – und somit der Grund für ihre Ermordung durch dienationalsozialistischen Besatzer – verschwiegen.39 Dieses Beschweigen geschieht mitunter noch heute. Der Kindermord an sich war es, der den Besatzern als Akt der besonderen Grausamkeit angerechnet wurde. Während des Krieges hatte das Beschweigen der Behinderung der Opfer auch den Zweck, unter den Angehörigen der Roten Armee den Hass auf den Feind zu verstärken: Fasste man die Kategorie der Kinder allgemein, so konnte dazu auch jedes Kind eines sowjetischen Soldaten zählen. 1980 wurde auf dem städtischen Friedhof von Ejsk, wohin – jedenfalls nach offiziellen Angaben – die Gebeine der ermordeten Kinder umgebettet worden waren, ein Denkmal für sie errichtet. Seit 2012 finden dort jährlich Gedenkveranstaltungen statt, an denen Vertreter der örtlichen Verwaltung, Mitarbeiter des Ejsker Samsonov-Museums für Geschichte und Heimatkunde sowie Kriegsveteranen und Schulkinder teilnehmen. 2019 war geplant, das Gedenken mit der Eröffnung der Ausstellung „Pomni o nas . . .“ und einer wissenschaftlichen Tagung, auf der die offiziellen Partner des Ausstellungsprojekts vertreten sind, zu begehen. Russlands Sicherheitsbehörden zeigten sich sehr interessiert und forderten neben Informationen zur Ausstellung und Tagung Listen mit den vollständigen Kontaktdaten aller Teilnehmer sowie eine Reihe von Archivdokumenten an, die die Kuratorin für die Ausstellung zusammengetragen hatte. Am Vorabend der Eröffnung wurde klar, was der Sinn und Zweck der letztgenannten Forderung war: Regionale und föderale Medien berichteten über die Freigabe wichtiger Quellen zum NS-Massenmord an den Kindern des Kinderheims aus dem regionalen Archiv des Inlandsgeheimdienstes (FSB-Archiv). Fast all diese Quellen waren in Historikerkreisen bereits bekannt; sie waren auch für die Ausstellung herangezogen worden.40 Am 9. Oktober 2019 wurde im zentralen Fernsehsender Pervyj kanal (Erster Kanal) zur Hauptsendezeit ein Interview mit Mitarbeitern des Samsonov-Museums für Geschichte und Heimatkunde ausgestrahlt, welche die Veröffentlichung der Archivalien kommentierten und über einen dank der neuen Erkenntnisse wiedergefundenen Verwandten eines der überlebenden Kinder aus dem Kinderheim berichteten. Ein Zusatzaspekt der Geschichte war, dass dieser Verwandte auf der 2014 durch Russland besetzten Halbinsel Krim wohnte. Der mediale propagandistische historische Brückenschlag bestand darin, dass im August 1941 über 100Kinder aus dem Waisenhaus in Simferopol’ nach Ejsk evakuiert worden waren.41 Die regionalen Behörden in Ejsk luden nun Vertreter der Verwaltung von Simferopol’ zu den Veranstaltungen am 9. Oktober 2019 ein. Diese reisten tatsächlich an, um sich persönlich von der Geschichte der Ermordung der Kinder mit Behinderungen durch die NS-Besatzer erzählen zu lassen.42 Dieser Krim-Delegation schenkten die Medien große Aufmerksamkeit. Die Veröffentlichung der genannten Archivdokumente jubelte der Erste Kanal des russländischen Fernsehens landesweit zur Sensation hoch. Staatliche und staatsnahe Medien schenkten der eigentlichen Ausstellungseröffnung in Ejsk keine Beachtung, aber die Fakten verdrehten sie so, dass der Ruhm für die „Aufdeckung“ der NS-Verbrechen an den Kindern mit Behinderungen von Ejsk russländischen Experten zufiel. Es war offensichtlich, dass offizielle Stellen nicht zulassen wollten, dass ein Projekt, das von einer deutschen Stiftung finanziert wurde und sich mit Opfern der NS-Besatzung befasst, öffentliche Aufmerksamkeit erregte. In Russlands aktueller Erinnerungskultur zum Großen Vaterländischen Krieg und den sowjetischen Opfern darf der westliche „Feind“ keine aktive Rolle als Mitgestalter spielen. Das einzige wirklich Neue, was die Veröffentlichung der Quellen aus dem regionalen FSB-Archiv erbrachte, war das Bekanntwerden einer handschriftlichen Tabelle, in der die Nationalität und der Grad der Behinderung der 1942 ermordeten Kinder aus dem Kinderheim Ejsk vermerkt sind.43Seither werden die Ejsker Kinder im offiziellen Gedenken an die Opfer des „Großen Vaterländischen Krieges“ als „Kinder mit Behinderungen“ geführt. Dies ist wichtig, denn damit wird implizit auch auf ihre Todesursache hingewiesen: Sie wurden eben nicht als sowjetische Kinder getötet, wie es die sowjetische Erinnerungskultur üblicherweise darstellte, sondern als Kinder mit Behinderungen, die in der nationalsozialistischen Ideologie als nicht lebenswert galten. Zwei Wochen nach der Ausstellungseröffnung in Ejsk leitete das Ermittlungskomitee der Russländischen Föderation ein Strafverfahren gegen Angehörige des nationalsozialistischen Besatzungsregimes ein, denen die Beteiligung an der Ermordung der Jejsker Kinder vorgeworfen wurde.44 Die Medien in Russland veröffentlichten die Namen von drei Deutschen, die den Ermittlungen zufolge am Kindermord beteiligt waren und bislang nicht strafrechtlich belangt worden waren.45 Im Juli 2022 erkannte das Regionalgericht Krasnodar „die Verbrechen der Nazi-Besatzer, die während desGroßen Vaterländischen Krieges auf dem Territorium der Region Krasnodar begangen wurden, als Genozid“ an.46
47 Ejsk wurde zu einem der vom Gericht behandelten Fälle. Derartige „Kriegsverbrecher-Prozesse“ stehen auch im Zusammenhang mit dem Bestreben der Staatsmacht, das Konzept des „Genozids an den Völkern der Sowjetunion“ in Gerichtsurteile zu gießen und damit als juristische Kategorie zu verfestigen.48

Fazit

Im Rahmen meiner Dissertation über Erinnerung an den Holocaust im Nordkaukasus führte ich in den Jahren 2015/2016 Feldforschungen in der Region durch. Dabei stieß ich auf eine Geschichte des Lokalhistorikers Ivan Bojko aus dem Bezirk Novopokrovskij (Novopokrovskij rajon) in der Region Krasnodar.49 Bojko konnte Anfang der 2000er Jahre Massengräber von Jüdinnen und Juden in dem Bezirk identifizieren. Bei den jüdischen Opfern handelte es sich um Menschen, die währenddes Zweiten Weltkriegs evakuiert oder aus den westlichen Gebieten der UdSSR geflohen und in der zweiten Hälfte des Jahres 1942 ermordet worden waren. Auf lokalerEbene war das Schicksal dieser jüdischen Opfer bekannt, ihrer wurde gedacht. Bojko arbeitete damals eng mit dem „Holocaust“-Zentrum in Moskau zusammen. Als im November 2022 im Bezirk Novopokrovskij die Ausstellung „Pomni o nas . . .“ präsentiert wurde, veröffentlichte er Artikel in den regionalen Medien, in denen er die Bedeutung des Ausstellungsprojekts würdigte. Darin kommt er auch auf seinen eigenen Einsatz zur Bewahrung der Erinnerung an die Opfer der NS-Besatzung im Nordkaukasus zu sprechen – doch nun erwähnt er die jüdischen Opfer mit keinem Wort mehr, sondern subsumiert sie nach der aktuellen politischen Lesart der Gruppe der „Flüchtlinge“ und „Opfer des Faschismus“.50 Der Holocaust geht auf im großen „Genozid an den Völkern der Sowjetunion“. Bojko fungiert inzwischen als Sprachrohr der neuen offiziellen Ideologie, deren Vertreter bewusst die Ergebnisse seiner Arbeit für ihre Zwecke nutzen. Auf ähnliche Weise wird die Ausstellung „Pomni o nas . . .“ in Russlands Gesellschaft instrumentalisiert. Auch hier wird das Gedenken an das besondere Schicksal einer Opfergruppe der nationalsozialistischen Besatzung von den Propagandisten der offiziellen Geschichtspolitik nivelliert und dem „Genozid an den Völkern der Sowjetunion“ zugerechnet. Es bleibt zu hoffen, dass die Besucherinnen und Besucher der Ausstellung gegen diese verordnete Lesart der Geschichte immun sind und sich auf der Basis der ausgestellten Fakten ihre eigene Meinung bilden.