Psychiatrie in der Ukraine - Psychiatrie im Krieg
Ein Interview mit Dr. Juri Zakal
Wir präsentieren im Folgenden ein Interview, das am 23. Februar 2023 in der polnischen Gazeta Wyborcza erschien. Die Journalistin Agnieszka Jucewicz sprach mit Dr. Juri Zakal, Arzt am psychiatrischen Krankenhaus Kulparkiv (Kulparkow) in Lviv (Lemberg) in der Westukraine.
Warum ist das wichtig?
Erstens: Durch den verbrecherischen Krieg Rußlands gegen die Ukraine leiden alle Ukrainer. Wie in jedem Krieg sind diejenigen, die auf Hilfe und Solidarität angewiesen sind, besonders gefährdet. Dazu gehören Psychiatriepatienten. Es gilt, besonders aufzupassen, dass hier die Menschenwürde gewahrt bleibt. Dazu sollten wir denen zuhören, die sich auskennen. Dr. Juri Zakal gehört dazu.
Zweitens: Kulparkow war unter deutscher Besatzung einer der Orte im von Deutschen besetzten Polen, in denen Patienten durch Hunger getötet wurden.
Kulparkow ist auch ein Erinnerungsort an die deutschen Verbrechen im Zweiten Weltkrieg (zumindest sollte es einer sein). Als solcher sollte er uns nicht egal sein. Zugleich kann es uns nicht kalt lassen, wenn 80 Jahre nach den Ereignissen wieder Menschen, psychisch Kranke, flüchten müssen - dieses Mal vor russischem Terror, Faschismus und Eroberungskrieg.
Hier wurden polnische, ukrainische und jüdische Patienten von Deutschen ermordet und deportiert. Später wurden dann deutsche Patienten, vor allem aus dem Rheinland, hierher gebracht. Viele von ihnen starben ebenfalls an der Mangelernährung und der Verwahrlosung, der sie ausgesetzt waren.
"Liebe Agnieszka, gibt es in Polen Anwälte, die helfen könnten, ein Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen oder der Staatsanwaltschaft in Den Haag wegen der Verbrechen der Russischen Föderation in der Ukraine an geistig behinderten und psychisch kranken Menschen einzuleiten?" Dr. Juri Zakal, Psychiater
Im Folgenden nun das Interview.
Ich kontaktiere Dr. Juri Zakal zum ersten Mal vor einem Jahr, im März. Nachdem ich erfahren habe, dass die psychiatrischen Krankenhäuser im Osten des Landes in einer katastrophalen Lage sind. Das Krankenhaus in Nikolajew wird bombardiert, wie durch ein Wunder gelingt es, zwanzig Minuten vor dem Angriff die Patienten zu evakuieren. Das Krankenhaus in Tschernigow ist von russischen Soldaten besetzt. Das in Cherson ist von der Außenwelt abgeschnitten, ohne Strom und Wasser. Es mangelt an Lebensmitteln, Medikamenten, Matratzen, Unterkünften und Krankenwagen. Psychiatriepatienten, die bisher zu Hause behandelt wurden, irren in den Trümmern der Städte umher. Einige sind völlig allein, andere verlassen ihr Zuhause während eines Alarms und schaffen es nicht, zurückkehren. Es gibt auch neue Patienten. In einem akuten Zustand, verursacht durch eine traumatische Situation. Unter Schock, verängstigt.
Am 6. April erhalte ich eine Nachricht von dem Arzt: "Liebe Agnieszka, gibt es in Polen Anwälte, die helfen könnten, ein Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof der Vereinten Nationen oder der Staatsanwaltschaft in Den Haag wegen der Verbrechen der Russischen Föderation in der Ukraine an geistig behinderten und psychisch kranken Menschen einzuleiten?". Über die Helsinki Foundation for Human Rights gelingt es uns, ukrainische Freiwillige zu erreichen, die die für die Einleitung eines solchen Verfahrens erforderlichen Beweise sammeln.
Gleichzeitig organisiert Zakal zusammen mit seinen Kollegen die humanitäre Hilfe aus dem Ausland. Dank des Engagements polnischer und ukrainischer Ärzte und Behörden gelingt es, humanitäre Korridore für Patienten und Personal aus dem Osten zu öffnen. Eine zweite Anzahl von Patienten wird nach Kulparkov gebracht, das vor dem Krieg 450 Patienten zählte. Darunter sind auch ältere Kranke aus Pflege- und Behandlungseinrichtungen, oft mit Demenz. Heute sind es eintausend Patienten.
Zakal und ich sind in ständigem Kontakt. Wir schicken uns regelmäßig Nachrichten. Wie geht es Ihnen? Und Ihnen? Gab es heute Alarme? Was brauchen Sie?
Im November erfahre ich, dass Stromausfälle das Krankenhausleben durcheinander bringen. Die Patienten frieren. Das Kulparkow-Krankenhaus ist riesig, aber es gibt nur eine Küche, so dass die Mahlzeiten, die in weiter entfernte Gebäude geliefert werden, bereits kalt sind. Es werden Stromgeneratoren, warme Wäsche, Thermoskannen und Gaskocher benötigt, damit jede Station wenigstens eine heiße Tasse Tee bekommen kann.
Im November organisieren wir gemeinsam mit Michał Olszewski, einem Journalisten der Krakauer Ausgabe der Tageszeitung "Wyborcza", eine Spendenaktion für Kulparkow, um die notwendigen Geräte zu kaufen. Mehr als vierhundert Spender tragen zur "Winterhilfe" für das Krankenhaus bei. Michael transportiert zweimal Hilfsgüter nach Lviv.
Im Dezember kommt eine Delegation des Krankenhauses - Direktor Bohdan Chechotka, der Psychiater Roman Bohut und Doktor Juri Zakal - auf besondere Einladung des Krankenhauses in Pruszków nach Polen. Die Einrichtungen werden ein Abkommen über Zusammenarbeit und gegenseitige Unterstützung unterzeichnen. Für die Ukrainer ist es eine wichtige Geste, dass sie nicht vergessen werden. Ich treffe die Ärzte zwischen den offiziellen Programmpunkten. Wir unterhalten uns, ich bekomme eine Einladung nach Lemberg, wir wechseln auch zum "Du". "Sobald der Krieg vorbei ist", sagt Zakal. Und fügt hinzu: "Ich kann mir nicht vorstellen, dass du nicht kommst. Wir werden feiern." Wir vereinbaren ein weiteres längeres Gespräch für Anfang Februar.
Agnieszka Jucewicz spricht mit Juri Zakal. Er ist Psychiater, Vizepräsident der Vereinigung der Psychiater der Ukraine und stellvertretender Direktor des größten psychiatrischen Krankenhauses der Ukraine, "Kulparkow" in Lemberg.
Juri Zakal : Ich erinnere mich an das erste Mal, als wir vor fast einem Jahr miteinander sprachen. Viele Menschen waren in Panik und flüchteten ins Ausland, aber auch zu uns, nach Lviv. Es schien, dass es hier sicher wäre, obwohl sich später herausstellte, dass das nicht der Fall war... Wir nahmen gerade Patienten aus dem Osten im Krankenhaus auf, insgesamt mehrere hundert Menschen. Wir wurden mobilisiert. Wir mussten einen Platz für sie finden. Und dann für immer mehr und mehr. Uns war klar, dass wir 24 Stunden am Tag arbeiten mussten. Dann gewöhnten wir uns allmählich an die Bedrohung.
Agnieszka Jucewicz: Was bedeutet es eigentlich, sich an den Krieg zu gewöhnen?
Ich gebe Dir ein Beispiel: Weihnachten. Die Menschen wollten, dass dieses Weihnachten wieder so wie früher wird. Unter den eigenen Leuten, ganz in der Nähe. Aber selbst wenn es gelang, das zu organisieren, tauchte ein Gedanke in allen Köpfen auf: Wie viele Menschen sind gestorben? Wie viele Kinder? Wie viele Frauen? Wie viele junge Männer? Wie viele Menschen werden sich nicht mehr an diesen Tisch setzen? Wenn jemand keinen nahestehenden Menschen verloren hat, dann jemanden aus seiner Großfamilie, einen Nachbarn, einen Arbeitskollegen, einen Bekannten. Ich frage mich oft, was in den Seelen der Menschen vor sich geht. Die Reaktionen sind vielfältig. In den Geschäften, auf den Straßen sehe ich gesenkte Köpfe. Manche Menschen haben ihre Arbeit verloren. Die Schulen funktionieren oder auch nicht. Der Strom ist ausgefallen. Am schlimmsten ist es, wenn sie ihn abends und nachts abschalten. Dann öffnet sich einfach ein schwarzes Loch.
Vor kurzem hatten wir Freiwillige aus Polen zu Gast. Sie kamen spät am Abend an. Im Krankenhaus gibt es im Moment Licht, weil wir den Status als kritische Infrastruktur haben, so dass der Strom als letztes Mittel abgeschaltet wird. Außerdem haben wir Generatoren. Ich habe zu ihnen gesagt: 'Hört zu, fahrt sehr vorsichtig durch die Stadt. Denn wenn der Strom abgeschaltet wird, kann man die Fußgänger nicht mehr sehen. Menschen springen plötzlich wie Schatten vor die Motorhaube, und ihr habt vielleicht keine Zeit mehr zu bremsen." Sie antworteten: "Ok, Ok." Sie konnten es sich nicht vorstellen. Erst als sie die Strecke gefahren waren, wurde ihnen klar, was es wirklich bedeutete. Wie es war, durch diese schreckliche Schwärze zu fahren.
Ist bekannt, wann der Strom ausfallen wird? Können Sie sich darauf vorbereiten?
Jeder Bezirk, jede Stadt hat einen Zeitplan. Der Tag ist in Zonen eingeteilt: grün, weiß und orange. Am Montag zum Beispiel gibt es von 1 bis 5 Uhr morgens eine grüne Zone, was bedeutet, dass es Strom geben wird. Von 5 bis 9 Uhr herrscht die weiße Zone, was bedeutet, dass man nicht weiß, ob es Strom gibt oder nicht. Und von 9 bis 13 Uhr ist die orange Zone, was bedeutet, dass es definitiv keinen Strom gibt. Jeden Tag sind diese Zonen anders angeordnet. Theoretisch können die Menschen ihren Tag daran ausrichten, aber was soll ein Mensch tun, der morgens zur Arbeit gehen will, aber zwischen 1 und 5 Uhr in der orangen Zone war? Wenn es keinen Strom gibt, gibt es auch kein Wasser, oder es tropft nur. Man kann sich nicht richtig waschen, Frauen können sich die Haare nicht richten. Wenn du einen Elektroherd hast, wirst du kein warmes Frühstück essen. Du wirst keinen Tee kochen. Das scheint eine Kleinigkeit zu sein, nicht wahr? Aber wenn das die ganze Zeit so ist, dann bist du danach psychisch tot. Ganz zu schweigen davon, dass manchmal der Strom plötzlich ausfällt, außerhalb des Zeitplans.
Was ist mit den Kindern?
Einige gehen zur Schule, andere nicht. Weil die Eltern Angst um sie haben und sie lieber zu Hause lernen. Oder einfach, weil die Bedingungen in der Schule nicht stimmen. Es ist kalt, in den Stunden ohne Strom lernt die ganze Klasse bei einer Lampe. Theoretisch sollte jede Schule einen eigenen Generator haben, aber das ist nicht der Fall. Auch haben nicht alle Schulen gut ausgestattete Schutzräume. Fernunterricht ist oft eine Farce, denn wie soll man lernen, wenn es ständig Probleme mit dem Internet gibt, die Signalstärke abnimmt. Oder stellen Sie sich eine andere Situation vor. Eine Familie mit Kindern fährt zu ihrer Großmutter. Im Plan steht, dass der Strom bei ihr zwischen 13 und 16 Uhr auf jeden Fall an sein wird. Sie steigen in den Aufzug und plötzlich bleibt er stehen. Und sie sind ein oder zwei Stunden lang darin gefangen. Es ist unmöglich, in Ruhe zu leben. Man kann nicht atmen. Man kann nicht an etwas Angenehmes denken. Man muss die ganze Zeit auf der Hut sein.
Früher war Lviv sehr lebendig. Viele Touristen kamen hierher. Jetzt ist das Zentrum leer. Die Kneipen sind offen, aber vor jeder steht ein Stromgenerator. Der erzeugt so ein auffälliges Geräusch „bsss“, so wie im Bienenstock.
Unangenehm?
Die Menschen sagen, sie hätten sich daran gewöhnt. Aber ist es wirklich möglich, sich an etwas zu gewöhnen, das einen daran erinnert, dass die Situation nicht normal ist?
Manche sagen, sie hätten sich auch an die Alarme gewöhnt. Und dass sie, wenn sie sie hören, sie einfach ignorieren.
Nun, ich denke, das kommt darauf an. Im Internet wird immer angegeben, was die Ursache des Alarms ist. Wenn es sich um Flugzeuge aus Weißrussland handelt, ist es klar, dass keine große Gefahr besteht. Sie fliegen einfach so an der Grenze entlang und ärgern uns. Das haben sie auch heute getan, weil in Kyiv ein europäischer Gipfel stattfand. Aber wenn wir von den militärischen Diensten ein Signal bekommen, dass Raketen aus dem Süden - vom Kaspischen Meer oder vom Schwarzen Meer - abgefeuert worden sind, dann nimmt das niemand auf die leichte Schulter. Man weiß, dass es sich um eine ernste Angelegenheit handelt, dass diese Rakete in einer halben oder einer Stunde bei uns eintreffen kann.
Im November sprachst Du bei einem Treffen mit polnischen Psychiatern in Krakau vom "Phantom-Sirenen-Syndrom". Was ist das?
Es kommt vor, dass Menschen, die den Raketenbeschuss überlebt haben, den Klang eines Alarms hören, wo es keinen gibt. Sie leben zum Beispiel in Polen oder Deutschland, und auf das Signal einer Straßenbahn oder eines Krankenwagens reagieren sie mit großer Angst, sie wollen sich verstecken. Dies wird als Flashback bezeichnet. Es ist eines der typischen Symptome für eine posttraumatische Belastungsstörung.
Träumst Du unter solchen Umständen von etwas?
Träumen? Eher nicht. Oder anders ausgedrückt: Es gibt nur einen Traum, den vom Sieg. Nur sah er am 24. Februar letzten Jahres anders aus, und er sieht auch heute anders aus. Er ist real geworden.
Wie meinst Du das?
Seit Beginn des Krieges haben wir einen Nachrichtenmarathon im ukrainischen Fernsehen. Egal, welchen Kanal man einschaltet, die Nachrichten sind einheitlich gestaltet. Und zwar so, dass sie den Menschen ein bisschen Mut machen. So wird nicht gesagt, wie viele unserer Soldaten an der Front gefallen sind, sondern es wird von unseren Siegen berichtet. Natürlich gibt es auch das Internet und die sozialen Medien.
Aber so wie die sozialen Medien zu Beginn des Krieges mit den Mainstream-Nachrichten mit einer Stimme sprachen, begannen sich diese Stimmen gegen Ende des Jahres zu spalten. Im Internet wird über Themen geschrieben, über die im Fernsehen nicht gesprochen wird. Wir erleben gerade eine kollektive Ernüchterung.
Geht es darum, dass die große Hoffnung auf einen Sieg nicht mehr da ist?
Die Hoffnung ist immer noch da. Es ist nur so, dass verschiedene Illusionen aufgegeben wurden. Zum Beispiel, dass es schnell gehen wird. Oder dass es allen Ukrainern gleichermaßen am Herzen liegt, dass sie alle solidarisch sind. Ich denke jetzt an ein Problem, das vor ein paar Wochen ans Licht kam. Sie wissen, dass es jetzt zwei Fronten in der Ukraine gibt? Die erste ist diejenige, an der unsere Soldaten kämpfen. Die zweite ist die innere Front, nämlich die Korruption in den Reihen unserer Politiker. Als die Menschen herausfanden, dass einer von ihnen beim Kauf von Generatoren für das Land 450.000 Dollar in seiner Tasche versteckte und ein anderer dasselbe tat, indem er Lebensmittel für die Armee zu künstlich überhöhten Preisen kaufte, fühlten sie sich benutzt und betrogen. Der Vorhang ist gefallen.
Der Krieg bringt das Beste und das Schlimmste im Menschen zum Vorschein.
Agnieszka, aber was für einen Krieg meinst Du? Es ist nicht nur ein Krieg um ein Gebiet. Es ist ein ideologischer Krieg. Es geht um die Kultur, um eine ganz andere Ukraine. Es ist gut, dass Präsident Zelenski sofort reagiert hat und gesagt hat, dass er das nicht tolerieren wird, denn die Gesellschaft begann zu verzweifeln. Und es gab eine Menge Wut. Die ist immer noch da, wenn man sieht, wie einige Abgeordnete das gestohlene Geld in Koffern oder in Sofas verstecken. Sie schmeißen damit Partys, feiern in Resorts oder fahren nach Thailand. Ist es das, wofür unsere Jungs ihr Blut vergießen?
Woher weiß man das?
Dank der unabhängigen Medien und Journalisten. Natürlich gibt es auch Saboteure im Internet, die die ukrainische Seele brechen wollen, indem sie Desinformation säen, aber die Menschen lernen, zwischen zuverlässigen und unzuverlässigen Quellen zu unterscheiden. Auch das Militär hat aufgehört, zu verschiedenen Themen zu schweigen. Und das ist auch gut so. Denn man sollte schon an die nächste Wahl denken. Nicht dann, "wann der Krieg zu Ende ist", sondern - wie wir hier sagen - wann "die Flugzeuge aufhören zu fliegen", wann es ein bisschen ruhiger wird. Dann wissen die Leute, wen sie nicht wählen sollen. Das ist sehr schmerzhaft, aber auch reinigend.
Eine Studie ukrainischer Soziologen vom Sommer 2022 besagt, dass 70 Prozent der Ukrainer durch den Krieg stark belastet sind. Wen trifft es Deiner Meinung nach am härtesten?
Ich würde sagen, Menschen, die einen Beruf, eine Pflicht haben - sich um Kinder, ältere Verwandte kümmern, einen Hund oder eine Katze haben oder die sich ehrenamtlich engagieren - sind in der Regel besser dran. Denn die Pflicht schützt einen vor Hoffnungslosigkeit und Dunkelheit. Andererseits habe ich den Eindruck, dass es einsame, ältere und kranke Menschen am schwersten haben. Erstens, weil sie sich verlassen fühlen. Zweitens, weil es für sie schwieriger ist, Essen zu organisieren, Wasser zu holen oder in einer dunklen, kalten Wohnung zu sitzen. Viele von ihnen leiden auch unter chronischem Stress, der an ihnen nagt und an ihren Kräften zehrt. Das ist gefährlich, denn eine weitere Belastung, und sei sie auch noch so gering, kann sie bereits brechen. Kinder haben meist jemanden - Eltern, Großeltern, andere Kinder. Sie haben auch eine etwas andere Perspektive auf das Geschehen. Manchmal gelingt es ihnen, den Krieg in ihrem Kopf in eine Art Spiel zu verwandeln, um sich zu distanzieren. Allerdings muss man auch sagen, dass sehr viele von ihnen an den Handys hängen.
Besorgt Dich das?
Was können wir ihnen jetzt noch anderes bieten? Es gibt Leben am Handy, da passiert etwas. Dort schreiben sie miteinander, hören Musik, spielen etwas, zeichnen. Vielleicht ist das in dieser Situation besser? Vielleicht ist es sogar so etwas wie eine Therapie für sie? Es schützt sie vor diesem ganzen Stress? Ich weiß nicht... Sicherlich sollten Eltern wissen, was ihre Kinder im Internet machen, was sie sich dort ansehen.
Wie versuchen Erwachsene, mit diesem Stress umzugehen? Flüchten sich mehr Menschen in den Alkohol?
Ich weiß nicht, ob mehr als vor dem Krieg. Aber ich weiß, dass man die Anspannung nicht lange durchhalten kann, wenn man trinkt. Am Ende ist man schneller im Krankenhaus als dass man erleichtert ist. Oder im Gefängnis, wenn man im Alkoholrausch ein Verbrechen begeht.
Vieles hängt von der psychologischen Konstitution des Einzelnen ab. Der eine wird trinken, ein anderer wird in eine tiefe Depression fallen und ein dritter wird versuchen, sich auf etwas einzulassen, um so wenig wie möglich daran zu denken. Das ändert jedoch nichts an der Tatsache, dass der "Kriegsvirus" oder "Kriegsstressvirus" in unserem Blutkreislauf ist. Er zirkuliert ständig in unserem Körper und macht den Schlaf flach, so dass wir zu jeder Tages- und Nachtzeit auf das Unerwartete gefasst sein müssen. Deshalb darf man nicht loslassen. Man darf nicht anfangen, sich selbst zu bemitleiden - oh, wie arm bin ich, wie arm bin ich.
Warum?
Weil man aus diesem Zustand vielleicht nicht wieder herauskommt. Ja, es ist sehr schwierig. Die Situation ist außergewöhnlich. Aber man darf sich nicht fallen lassen.
Untersuchungen zufolge suchen nur 2 % der Ukrainer, die einen Psychiater oder Psychotherapeuten benötigen, Hilfe, weil viele glauben, dass nur psychisch Kranke diese Hilfe in Anspruch nehmen und dass es eine Schande ist. Ist das immer noch der Fall?
Ich denke, das wird noch lange so bleiben. Hierfür gibt es mehrere Gründe. In den USA, in Deutschland und in Polen wird die Psychotherapie oder der Besuch beim Psychiater von der Versicherung übernommen. Damit ist es nicht so stigmatisierend. In unserem Land gibt es vorerst keine solche Versicherung. Der zweite Grund ist kultureller Natur. Die Ukrainer sind es gewohnt, allein zurechtkommen zu müssen. Auch wenn sie starke Schmerzen haben. Auf den Vorschlag: "Wie wäre es, einen Psychologen zu konsultieren?", antworten sie oft: "Und womit wird er mir helfen? Wird er mir Strom geben?". Abgesehen davon mangelt es an Fachkräften. Viele von ihnen sind ausgewandert. Auf der anderen Seite ändert sich aber auch etwas. Für die Präsidentengattin Olena Zelenska ist die psychische Gesundheit der Ukrainer eine Priorität. Sie tut sehr viel in dieser Hinsicht, sie ist so etwas wie unser Schutzengel. Ihr ist es zu verdanken, dass der Nationale Gesundheitsfonds vor kurzem einen neuen Dienst eingeführt hat: Ein Hausarzt kann nach einer entsprechenden Ausbildung grundlegende psychologische Hilfe leisten. Und es gibt immer mehr solcher Ärzte. Frau Zelenska beabsichtigt auch, die von den Russen zerstörten psychiatrischen Einrichtungen mit Geldern der Weltbank zu rmodernisieren.
Ich habe gehört, dass auf Deine Initiative hin eine soziale Kampagne unter dem Motto "Sag ehrlich, wie geht es dir?" ins Leben gerufen wurde, an der sich auch Prominente im Fernsehen beteiligen, um darauf aufmerksam zu machen, dass psychische Gesundheit wichtig ist.
Es gab auch verschiedene Projekte von NGOs zum Thema psychische Gesundheit. Nicht im psychiatrischen Sinne, sondern im Sinne der Sorge um das eigene Wohlbefinden im Allgemeinen. Es gibt Anlaufstellen für Beratung und Helplines. Ich glaube, dass alles, was den Gedanken der zivilisierten Hilfe fördert, sinnvoll und notwendig ist. Aber damit das funktioniert, muss in den Köpfen der Menschen das Vertrauen in diesen Bereich geweckt werden. Wir stehen erst am Anfang dieses Weges.
Und noch etwas: Es ist schwierig, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen, wenn man nicht über ein Minimum an Komfort im Leben verfügt. Wenn man einen Job hat, etwas Geld, ein Dach über dem Kopf, Strom, ist man eher motiviert, zu jemandem zu gehen und zum Beispiel darüber zu sprechen: "Ich stehe morgens auf und mein Mann oder meine Frau lächelt mich irgendwie nicht an und ich weiß nicht, wie ich damit umgehen soll". Und es ist etwas ganz anderes, wenn man morgens aufsteht und nicht nur, dass der Ehemann oder die Ehefrau einen nicht anlächelt, sondern man hat kein Licht, kein Wasser, der Laden ist geschlossen, und bei der Arbeit wurde das Gehalt gekürzt, weil es keine Aufträge gibt. Die Leute rufen die Notrufnummern nicht an, weil es ihnen schlecht geht, sondern weil sie sich beschweren: Wo ist der Strom? Er sollte doch da sein! Der Telefonist, der einen solchen Anruf entgegennimmt, nimmt diese Wut auf sich, dem Angerufenen geht es besser, weil er laut geschrien hat - und das ist seine Therapie. Kurzfristig mag das funktionieren, aber langfristig ist es keine Lösung. Denn dann wird er wieder frustriert sein. Und er wird weiterhin all diese Negativität anhäufen, weil er unter solchen und nicht unter anderen Bedingungen lebt.
Willst Du etwa sagen, dass psychologische Hilfe dann sinnvoll ist, wenn die Grundbedürfnisse der Menschen befriedigt sind?
Ich möchte sagen, dass die Menschen heute nicht nur durch die Tatsache gestresst sind, dass es einen Krieg gibt. Auch, dass sie keine Arbeit haben, kein Geld, dass sie sich für ihre Kinder verantwortlich fühlen, dass sie nicht wissen, wie die Zukunft aussehen wird, dass sie nichts planen können. Männer, die an der Front sind, denken an die Angehörigen, die sie zurückgelassen haben, und daran, dass sie keine Möglichkeit haben, ihnen zu helfen. Frauen ziehen ihre Kinder allein auf, ohne Ehemann. Kinder wachsen ohne Väter auf. Andere müssen sich um ältere Angehörige kümmern. Die Menschen spüren, dass eine große Verantwortung auf ihnen lastet.
Weißt Du... Wenn Du dich darauf konzentrieren musst, dass Du Brot besorgen musst, dann wirst Du wahrscheinlich keinen anderen Gedanken zulassen können, bis Du es tust. Und selbst wenn Du siehst, dass in Deiner Straße ein Zentrum für psychologische Unterstützung eröffnet wurde, wisrst Du nicht hingehen, wenn das Brot nicht da ist.
Untersuchungen der WHO in Gebieten, in denen bewaffnete Konflikte stattgefunden haben, zeigen, dass zehn Jahre nach dem Konflikt bis zu einem Fünftel der Bürger in irgendeiner Form an posttraumitischer Belastungsstörung, Depressionen und Angststörungen leiden. Mit einem Wort: Sie brauchen eine Behandlung. Was ist Deiner Meinung nach erforderlich, damit diese Menschen eine angemessene Behandlung erhalten?
Das ist eine Welle von Problemen, auf die wir uns JETZT vorbereiten müssen. Wir müssen ein ganzes System schaffen, ein Angebot von verschiedenen Zentren, die diese Hilfe anbieten. Von psychiatrischen Krankenhäusern, in denen akute oder chronische Erkrankungen behandelt werden können, über Kliniken für psychische Gesundheit bis hin zu psychologischen Rehabilitationszentren. Hier inspiriert mich das gemeindenahe Modell der psychiatrischen Versorgung, das in Polen seit einigen Jahren erprobt wird und auf Zentren für psychische Gesundheit basiert.
Und weisst Du, dass viele Menschen in Polen gar nicht wissen, dass es eine solche Reform gibt? Dass es bereits Dutzende solcher Zentren gibt, in denen man im Rahmen des Nationalen Gesundheitsfonds innerhalb von 72 Stunden Hilfe bei einer psychischen Krise bekommen kann? Wir fokussieren uns auf das Schlechte, wir sprechen selten über das Gute.
Wir sehen das ganz anders. Denn was haben wir in der staatlichen psychiatrischen Versorgung? Psychiatrische Krankenhäuser, kleinere Krankenhäuser, größere Krankenhäuser, Abteilungen in allgemeinen Krankenhäusern und jetzt auch Hausärzte. Das ist alles. Ich finde es gut, dass es in einem solchen Zentrum für psychische Gesundheit einen Psychiater, einen Psychotherapeuten, einen Ergotherapeuten, einen Sozialarbeiter und einen Genesungshelfer gibt. Dass es eine Tagesklinik gibt, dass ein mobiles Team zu den Patienten nach Hause kommen kann und dass das alles vom Staat bezahlt wird. Ein solches Zentrum ist auch für das psychiatrische Krankenhaus von Vorteil, da es die Patienten nicht so lange in seinen Räumlichkeiten behalten muss. Und für die Patienten ist auch gut, denn wenn sie das Krankenhaus verlassen, werden sie nicht im Stich gelassen, sondern sie setzen ihre Behandlung in verschiedenen Formen fort.
Zurzeit werden in der Ukraine Patienten in Krankenhäuser geschickt, die dort nicht hingehören, weil es kein anderes Angebot für sie gibt. Und wen treffen sie in einem solchen Krankenhaus an? Hauptsächlich chronisch Kranke, und wenn sie diese sehen, beginnen sie sich zu fragen, was die Zukunft für sie bereithält. Das ist Stigmatisierung! Deshalb wollen wir in Kulpkow eine Station für Patienten eröffnen, die sich in einer psychischen Krise befinden, zum Beispiel nach einem Suizidversuch, aber nicht chronisch krank sind. Sie brauchen nur Beobachtung und Diagnose. Wenn sich ihr Zustand nach ein paar Tagen stabilisiert, können sie nach Hause gehen. Ein weiterer wichtiger Punkt, auf den wir uns vorbereiten müssen, sind Soldaten, die traumatisiert von der Front zurückkehren. Das ist bereits der Fall, und es werden noch mehr werden. Ich bin der Meinung, dass jeder Soldat, der aus dem Krieg zurückkehrt, eine psychologische Beratung in Anspruch nehmen muss. Denn es kann sein, dass er gar nicht merkt, dass mit ihm etwas nicht stimmt.
Ist das im Moment nicht der Fall?
Nein. Ohne die entsprechenden Papiere sollten die Soldaten nicht ins zivile Leben zurückkehren. Denn wenn sie eine posttraumatische Belastungsstörung oder eine andere Störung haben, die aus den Traumata des Krieges resultiert, können sie für sich selbst und für andere gefährlich werden.
Wohin kommen sie im Moment?
Alle Verwundeten und Verletzten, ob sie nun ein Bein verloren haben oder an einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden, kommen zunächst in die Ambulanz eines allgemeinen Militärkrankenhauses, wo sie sich für eine Diagnose anstellen müssen. Das dauert lange, weil die Krankenhäuser bereits überfüllt sind. Kürzlich habe ich in einem Forum gelesen, wie ein Soldat einen anderen fragte, welche Zahl er habe, und ihm 450 genannt wurde. Die Soldaten sind gequält vom Warten, von der Bürokratie. Vor allem, wenn sie psychologische oder psychiatrische Betreuung benötigen. Und ohne eine Überweisung eines Militärarztes können wir sie nicht im Krankenhaus aufnehmen. Deshalb sollte das System geändert werden. Vor allem sollte es viel mehr solcher Hilfszentren für Veteranen geben. Wir brauchen auch mehr gut ausgebildete Psychologen und Psychotherapeuten.
Wie viele Veteranen habet Ihr derzeit in Kulparkow?
Das will ich ganz diplomatisch beantworten. Am Anfang mussten wir hundert Betten für sie bereithalten. Jetzt müssen wir zweihundert dieser Betten haben.
Haben sie alle ein posttraumatisches Stresssyndrom?
Meistens ja, aber es gibt auch Fälle von Depressionen, Schizophrenie, Suchtkrankheiten. Ich kann nicht wirklich darüber sprechen, aber sie brauchen definitiv Hilfe. Deshalb eröffnen wir in Drohobytsch, wo es Ruhe, wunderbare Luft und Wälder gibt, gerade ein Rehabilitationszentrum für Soldaten, die keinen Aufenthalt in unserem Krankenhaus mehr brauchen, sondern individuelle Psychotherapie, Gruppenpsychotherapie, verschiedene Aktivitäten, um wieder ganz gesund zu werden.
Du hast vorhin gesagt, dass es bereits einen Mangel an Fachkräften gibt. Woher sollen sie kommen?
Das ist eine gute Frage. Man kann der Meinung sein, dass man sie aus dem privaten Sektor holen soll. Wenn Sie sich im Internet umsehen, finden Sie dort eine Vielzahl von Fachleuten für psychische Gesundheit. Sie stellen sich als Psychologen, Psychotherapeuten.... vor.
Haben sie nicht die richtige Ausbildung?
Viele von ihnen haben das nicht. Und selbst wenn man welche finde, die eine Ausbildung haben, müssen sie doch eine gewisse Motivation haben, im staatlichen System zu arbeiten, oder? Die Bezahlung muss anders sein.
Als wir vor einem Jahr miteinander sprachen, gab es im Kulpark praktisch einen Mangel an allem. An Medikamenten, weil man plötzlich zweimal so viele Patienten aufnehmen musste, an Schutzeinrichtungen, an Krankenwagen. Und als die Russen die Energieinfrastruktur zerstörten, brauchte man Stromgeneratoren, Batterien, warme Kleidung für die Patienten.
Und all das wurde mit Hilfe vieler Menschen guten Willens organisiert.
Und was sind heute Eure größten Bedarfe?
Nun, genau genommen die Hilfe bei der Organisation der psychologischen und psychiatrischen Betreuung derjenigen, die sie brauchen werden. Ich weiß noch nicht genau, wie das aussehen soll, aber aus den Erfahrungen des letzten Jahres weiß ich, dass diese Zusammenarbeit flexibel sein sollte. Sie sollte offen für verschiedene Optionen sein.
Akzeptierst Du die Möglichkeit, dass polnische Spezialisten zur Behandlung ukrainischer Patienten kommen? Oder ladet Ihr sie ein, zu Behandlungen zu kommen?
Sicherlich sollten unsere polnischen Kollegen - Psychiater, Psychotherapeuten - der ukrainische Regierung nicht die Versorgung der Patienten abnehmen. Es ist nicht so, dass sie es auf sich nehmen sollten, sie alleine zu behandeln und zu versorgen. Sie können sich nur einbringen. Ich sagte, wir brauchen Spezialisten. Aber wir brauchen nicht nur ausgebildete Psychiater, Psychologen und Psychotherapeuten. Wir brauchen auch Menschen mit einer kürzeren Ausbildung, zum Beispiel in psychologischer Grundversorgung oder Krisenintervention. Krankenschwestern und -pfleger zum Beispiel könnten eine solche Ausbildung erhalten. Auch hier würden wir von der Hilfe polnischer Spezialisten, die solche Schulungen durchführen könnten, sehr profitieren. Wir brauchen auch Supervisoren, die diese Prozesse überwachen.
Wenn wir nicht nach anderen Auswegen aus dieser Situation suchen, können Menschen, die Hilfe brauchen und sie nicht bekommen, eine kritische Masse bilden, in der sich verschiedene emotionale Spannungen aufstauen, und dann kann es zu Ausbrüchen, ja sogar zu Aggressionen kommen. Deshalb muss alles getan werden, um dies zu verhindern. Behandlung ist wichtig, aber Psychoedukation und Prävention sind ebenso wichtig. Diese sollten auch in die Standards der Soldatenbetreuung integriert werden.
Was brauchen die Ukrainer im Moment am meisten von den Polen?
Ihr habt schon so viel für uns getan, dass ich nicht weiß, ob ich darauf antworten kann... Ich weiß! Bleibt so, wie ihr seid. Mit wem ich auch zusammenkomme, egal auf welcher Ebene, sage ich: "Schaut euch unsere Nachbarn an! In den 1990er Jahren waren wir genauso. Und dann habt ihr einen unglaublichen Sprung gemacht, ihr seid der Union beigetreten, und heute sieht alles anders aus. Wenn man die ukrainisch-polnische Grenze überquert, atmet man sofort eine andere Luft. Die Straßen sind anständig, die Häuser sind gut instandgehalten, alles ist schön anzuschauen. Aber das ist noch nicht alles. Auch der Umgang der Menschen untereinander ist anders.
Siehst Du das wirklich so?
Das tue ich wirklich. Ich sage nur soviel: Seid weiterhin ein Vorbild für uns. Ein Vorbild an Demokratie und angenehmem Leben.
Juri Zakal - Vizepräsident der Vereinigung der Psychiater der Ukraine, Präsident der Lemberger Psychiatervereinigung, stellvertretender Generaldirektor des Lemberger regionalen klinischen psychiatrischen Krankenhauses.
(c) Gazeta Wyborcza, 23.2.2023
Übersetzung und Einleitung: Robert Parzer