Alois Zähringer
aus Bleichheim
geb.
in
Bleichheim (Baden-Württemberg)
gest.
in
Grafeneck
aus Bleichheim
geb.
in
Bleichheim (Baden-Württemberg)
gest.
in
Grafeneck
Über meinen Großonkel Alois Zähringer ist trotz jahrelanger Recherche nur wenig bekannt. Nicht mehr als eine Handvoll biografischer Lebensdaten konnte ich zusammentragen. Eine Fotografie, auf der sein Gesicht zu erkennen ist, hat sich nicht erhalten. Es sind auch keine Selbstzeugnisse von ihm überliefert, die es ermöglichen würden, sich ihm auf eine persönliche Art anzunähern. Seine Mörder verwischten und vernichteten viele Spuren, die an ihn und das von ihnen verübte Verbrechen hätten erinnern können.
Meine Familie schwieg in den Jahrzehnten nach dem Krieg und löschte ihn aus dem Familiengedächtnis aus. Keine Anekdote ist über ihn bekannt. Ich möchte Alois dem Vergessen entreißen und nutze deshalb gerne die Gelegenheit, hier öffentlich an ihn zu erinnern. Aufgrund der nur bruchstückhaften Informationen zu seiner Biografie werde ich vor allem auf meine Spurensuche eingehen. Zwangsläufig werde ich dabei auch über mich selbst und meine Motive sprechen, obwohl natürlich das Leben und der gewaltsame Tod von Alois im Vordergrund stehen sollen. Mein Text folgt nicht der Chronologie seiner Biografie, sondern dem Verlauf meiner Recherchen. In dem jahrelangen Bemühen um die Rekonstruktion seines Schicksals spiegelt sich auch ein Stück »deutscher Vergangenheitsbewältigung« wider.
Für meine Familiengeschichte begann ich mich als 12-Jähriger zu interessieren. Ich befragte damals meine Großmutter Hilda (1913-1993) nach ihren Eltern, Großeltern und ihren Geschwistern. Dies war kein einfaches Unterfangen, da meine Oma nie gerne aus ihrer Kindheit und von ihrer Familie erzählte. Meine Eltern und ich erklärten uns dies damit, dass ihre Mutter 1924 gestorben war, als sie zehn Jahre alt war. Bereits ein halbes Jahr später heiratete ihr Vater wieder. Das Verhältnis zu ihrer Stiefmutter war von Anfang an schwierig. Für meine Oma verkörperte die neue Frau die »böse Stiefmutter«, wie sie im Märchenbuch steht.
Auch zu ihren Halbgeschwistern verband sie keine enge Beziehung. Kaum erwachsen geworden, zog sie von ihrem Heimatort Bleichheim weg. Nach dem Tod ihres Vaters 1953 brach sie den Kontakt zu ihrer Stiefmutter und ihren drei Halbgeschwistern vollkommen ab. Nur zu ihrem ein Jahr älteren Bruder Oskar (1912-1979) verband sie bis zu dessen Tod ein enges Verhältnis. Auf mein Nachfragen hin erzählte mir meine Oma damals, sie habe aus der ersten Ehe ihres Vaters zwei weitere Geschwister gehabt. Ihre Schwester Anna Cäcilie und ihr Bruder Karl Friedrich seien jünger als sie gewesen und »klein« gestorben.
Meine Oma ahnte nicht, dass ich das Standesamt von Herbolzheim-Bleichheim anschreiben und um die Zusendung von Kopien der Geburts- und Sterbeurkunden bitten würde. Die Antwort, die ich erhielt, war irritierend. Ihre Schwester war tatsächlich 1919 zur Welt gekommen und kurz nach der Geburt gestorben. Mit dem Bruder verhielt sich die Sache aber anders: Man teilte mir mit, dass es keinen Bruder mit dem Namen Karl Friedrich gebe, sondern er in Wirklichkeit Alois hieß. Aus der beigefügten Kopie der Geburtsurkunde ging hervor, dass er am 29. September 1921 als Sohn des Schreiners Friedrich Zähringer und dessen Ehefrau Maria geb. Ochsner geboren wurde. Wieso hatte sich meine Oma nicht an seinen Namen erinnern können, obwohl sie doch bei seiner Geburt bereits acht Jahre alt war? Man teilte mir außerdem mit, dass er nicht in Bleichheim gestorben sei.
Auf seiner Geburtsurkunde befand sich eine Randnotiz. Die Registernummer endete auf die Ziffer 1940, weshalb ich davon ausging, dass er in diesem Jahr gestorben war. Damit wäre er zum Zeitpunkt seines Todes etwa 18 Jahre alt gewesen. Der Sterbeort schien in Württemberg (»Wttbg.«) zu liegen. Ich meinte »Grafenruck« oder »Grafeneck« zu entziffern, war mir aber nicht sicher.
Irgendwie passten die Angaben nicht zusammen. Natürlich fragte ich bei meiner Oma nach. Sie tat überrascht. Also schlug ich in der 20-bändigen Brockhaus Enzyklopädie nach, die bei meinen Eltern im Regal stand, in dem naiven Glauben, dass in diesem Nachschlagewerk alles zu finden sei. Unter dem Stichwort »Grafeneck« wurde ich fündig: »Grafeneck, ehemaliges Jagdschloss in der Gem. Dapfen, Kr. Münsingen, Bad.-Württ., von Herzog Christoph von Württemberg erbaut (Renaissance), heute Pflegeanstalt.«1Ich wusste von meinem Vater, dass sich in Münsingen ein Truppenübungsplatz befand und reimte mir eine Erklärung zusammen. Was lag näher, als dass der 18-jährige Alois ein Wehrmachtssoldat war, der im zweiten Kriegsjahr 1940 auf einem Truppenübungsplatz verletzt wurde und dann in der nahe gelegenen Pflegeanstalt, einem Lazarett, seiner Verwundung erlag?
Ein Jahr später las ich zufällig in der Zeitung, dass in Grafeneck auf der Schwäbischen Alb am Buß- und Bettag 1990 eine Gedenkstätte zur Erinnerung an die Opfer der nationalsozialistischen »Euthanasie« eingeweiht wurde. Außer einer 1985 aufgestellten Informationstafel und einer 1982 auf dem Anstaltsfriedhof angebrachten Grabplatte hatte bis dahin vor Ort kein sichtbares Gedenkzeichen an den Massenmord erinnert. Die Nachricht überraschte mich vollkommen. Natürlich konfrontierte ich meine Oma damit. Sie reagierte sehr ausweichend. Von Grafeneck habe sie noch nie etwas gehört, sie habe immer geglaubt, dass ihr Bruder in einer Anstalt »am Hochrhein«, »bei Wyhlen« gewesen sei. Er habe manchmal »so Anfälle« gehabt. Ich fragte damals nicht hartnäckig nach. Ohnehin war ihre Glaubwürdigkeit für mich erschüttert.
Stattdessen nahm ich über die Stadt Münsingen im November 1990 Kontakt zur Heimleitung des Samariterstifts Grafeneck, einer diakonischen Einrichtung der Behindertenhilfe, auf. Man teilte mir mit, dass es leider »keine Quellenbestände« gebe. »Die Unterlagen des in Grafeneck eingerichteten Sonderstandesamtes wurde nach der Beendigung der sogenannten Euthanasieaktion vernichtet.« Man verwies mich auf die einzige damals existierende Monografie zum »Euthanasie«-Massenmord in Grafeneck.2. Natürlich besorgte ich mir das Büchlein und las es mit Interesse. Ich war dankbar, erstmalig eine ausführlichere Schilderung des Verbrechens zu finden. Bedeutsam für mich war darüber hinaus das Foto eines männlichen Jugendlichen, das sowohl auf dem Einband als auch im Innern des Buches abgedruckt war. Die Bildunterschrift lautete: »Ein behinderter Jugendlicher, der in Grafeneck den Tod fand.« Das Foto dieses namenlosen Opfers war damals eine ideale Projektionsfläche, mir vorzustellen, das könnte Alois sein. Ich meinte sogar eine gewisse Ähnlichkeit mit meiner Oma feststellen zu können.
Meine Oma starb 1993, als ich 16 Jahre alt war. Ich hatte damals das Gefühl, alles über Alois herausgefunden zu haben, was ich herausfinden konnte. Erst im Zuge meines Zivildienstes 1996/97 in einem Altenpflegeheim und schließlich während meines Geschichtsstudiums ab 1997 intensivierte sich mein Interesse. Ich war damals selbst Anfang 20 und machte mir klar, dass Alois bei seinem gewaltsamen Tod etwa in meinem Alter gewesen war. Diese Gemeinsamkeit verband mich mit ihm, wohlwissend, dass unsere Lebenssituationen vollkommen unterschiedlich waren. Ich begann gründlicher zu recherchieren. Teilweise forschte ich selbst in Archiven, meist schrieb ich aber Institutionen an und bat sie um Auskunft. Ich brauchte einen langen Atem. Häufig waren die Recherchen dadurch erschwert, dass ich keine präzise Auskunft über vorhandenes Aktenmaterial erhielt. Dies war sicherlich keine bösartige Absicht, sondern der Tatsache geschuldet, dass Recherchen zeitintensiv sind, sie aber häufig von den (teilweise sogar nur ehrenamtlichen) Mitarbeitern nebenbei erledigt werden.
In den Kirchenbüchern der katholischen Pfarrgemeinde in Bleichheim fand ich im Taufbuch, aber vor allem im Totenbuch wichtige Informationen. Demnach wurde Alois am 2. Oktober 1921, also drei Tage nach seiner Geburt, in der Pfarrkirche St. Hilarius katholisch getauft. Die bloße Existenz eines Eintrages im Totenbuch war für mich überraschend. Ich war davon ausgegangen, dass es keinen gebe, da er ja nicht in Bleichheim verstorben, sondern in Grafeneck ermordet worden war.
Aber am 13. November 1940 verzeichnete der damalige Pfarrer von Bleichheim, Joseph Pfaff, den Tod von Alois: Ich erfuhr dadurch das angebliche Todesdatum (»16. Sept.« 1940) und die fiktive Todesursache (»Hirnhautentzündung«). Außerdem war in dem Eintrag sein früherer Wohnort (»zuletzt in der Anstalt Herten bei Basel«) angegeben. Diese Angabe deckte sich mit der Aussage meiner Oma, dass er in einer Anstalt am Hochrhein gelebt habe. Darüber hinaus erhielt der Eintrag im Totenbuch die Information, dass meine Familie aus Grafeneck die Urne mit Asche anforderte und diese am 28. Oktober 1940 auf dem Friedhof in Bleichheim an der Seite der 1924 verstorbenen Mutter »still beerdigt« wurde. Dieses Detail ist für mich bis heute wichtig. Es ist der einzige Hinweis, dass es immer noch eine gewisse emotionale Bindung der Familie zu Alois gab. Trotz seines jahrelangen Aufenthalts in einer Anstalt wurde er als zugehörig zur Familie angesehen und im Familiengrab beigesetzt.
Der Eintrag im Totenbuch und der offizielle Todestag warfen bei mir die Frage auf, wann genau meine Oma vom Tod ihres Bruders erfuhr. Wenn die Mörder den Tod auf den 16. September 1940 datierten, dann mussten sie die Hinterbliebenen wenige Tage später »nach erfolgter Einäscherung« benachrichtigt haben. Meine Oma lebte damals schon einige Jahre nicht mehr in ihrem Heimatort Bleichheim, sondern in Neustadt im Schwarzwald. Sie stand aber noch im Kontakt zu ihrer Familie. Elf Tage nach dem offiziellen Todestag heiratete meine Oma am 27. Sep-tember 1940 meinen Opa Emil (1913-2003). Auf dem Hochzeitsfoto ist zu sehen, dass sie nicht in Weiß heiratete, sondern ein schwarzes Brautkleid trug. Sie erklärte dies damit, dass ihre Schwiegermutter kurz zuvor verstorben sei.
Tatsächlich war ihre Schwiegermutter aber über ein Jahr zuvor verstorben. Da man traditionell meist nur bis zum ersten Jahrestag Trauer trug, bezweifelte ich die Erklärung meiner Oma.
Herausragende Bedeutung bei der Spurensuche kam dem heutigen St. Josefshaus in Herten zu. Bei meinem ersten Kontakt im Februar 1997 antwortete mir der Direktor sehr freundlich: »Ich habe in unserem Archiv nachforschen lassen, welche Unterlagen vorhanden sind. Leider gibt es keine Akte, aus der persönliche Ereignisse bekannt sind.« Das einzige Datum, das überliefert sei, sei der 20. August 1940. An diesem Tag sei Alois von Herten in die Heil- und Pflegeanstalt Emmendingen verlegt und von dort weiter nach Grafeneck deportiert worden. Man übersandte mir eine kleine, druckfrische Broschüre.3Darin war auch der Name von Alois zusammen mit den Namen der anderen 345 deportierten und ermordeten Anstaltsinsassen abgedruckt, was mich damals sehr berührte. Im Mai 1999 wandte ich mich abermals an das St. Josefshaus und erkundigte mich diesmal gezielt nach dem Zeitpunkt, an dem Alois in die Anstalt aufgenommen wurde. Eine Ordensschwester antwortete mir: »Es ist der 9.8.1929.« Jetzt wusste ich, dass Alois die meiste Zeit seines kurzen Lebens in der katholischen St. Josephs-Anstalt Herten verbracht hatte. Im Alter von sieben Jahren musste er zu Hause Abschied nehmen und kam in die über 100 Kilometer entfernte Anstalt. Ob er jemals Besuch von seiner Familie erhielt? Aufgrund der Entfernung und der wirtschaftlichen Verhältnisse vermute ich, dass Besuch höchst selten war oder gar nicht vorkam.
Ich wollte mir eine Vorstellung davon machen, in welcher Umgebung er in Herten all die Jahre gelebt hatte und besorgte mir deshalb diverse Jahresberichte der 1879 gegründeten St. Josephs-Anstalt aus den 1920er und 30er Jahren. Außerdem erwarb ich über den Deutschen Caritasverband in Freiburg Dutzende von Fotoreproduktionen, darunter Außen- und Innenaufnahmen der Anstaltsgebäude, aber auch Fotos, die die Bewohner zeigten und das Anstaltsleben in den 1920er und 30er Jahren dokumentierten. Ich erinnere mich, wie ich diese Fotografien stundenlang betrachtete, vor allem Gruppenaufnahmen mit Anstaltsinsassen intensiv studierte und nach einem mir vertraut erscheinenden Gesicht absuchte. Eines der Gruppenfotos war mit »Bildungsfähige Kinder« beschriftet, ein anderes war mit »Nicht bildungsfähige Kinder« betitelt. Ich fragte mich, zu welcher Gruppe Alois wohl gezählt wurde. Großen Eindruck machte auf mich auch die Fotografie vom »Knaben-Schlafsaal«, auf der zu erkennen war, dass sich in dem Saal die Betten eng an eng reihten, ohne ein Mindestmaß an Privatsphäre. Unter den Fotos befand sich auch eine Außenansicht des »Laurentiushauses (für epileptische und geistesschwache Knaben)«. Die Aussage meiner Oma, ihr Bruder habe »so Anfälle« gehabt, kam mir wieder in den Sinn. Bestimmt hatte sie epileptische Anfälle gemeint und er hatte in diesem Haus gewohnt.
Ich wusste nun, dass Alois am 20. August 1940 von Herten in die Heil- und Pflegeanstalt Emmendingen verlegt wurde. Dieser Transport war der bereits dritte aus Herten. Insgesamt 75 Jungen und Männer wurden an diesem Tag deportiert. Die beiden Jüngsten waren gerade einmal vier Jahre alt, der Älteste bereits 70 Jahre. Die St. Josephs-Anstalt verweigerte bei diesem Transport ihre Mitwirkung. Über den Ablauf der Verlegung gibt ein Augenzeugenbericht des damaligen Anstaltsdirektors Karl Vomstein aus dem Jahr 1947 Auskunft.4Demnach suchte der »Transportleiter [...] mit seinem Begleitpersonal die zu verlegenden 75 Pfleglinge« selbst heraus. »Das führte zu endlosen Schwierigkeiten, so daß die Verladung sich über viele Stunden hinzog. Zum Schluß war ein heilloses Durcheinander, es stimmte die Zahl der Verladenen nicht, [...] außerdem entsprach die Persönlichkeit der Verladenen nicht durchweg den Transportlisten«. Die Verlegung erregte öffentliche Aufmerksamkeit und »eine große Menschenmenge aus Herten um Umgebung hatte sich um die Wagen angesammelt«. Der Transportleiter und seine Mitarbeiter der »Gemeinnützigen Kranken-Transport-Gesellschaft« seien »in heller Wut« gewesen und hätten »fürchterlich« geschimpft. Schließlich habe der Anstaltsdirektor zwei Schwestern angewiesen, zu helfen: »Weisungsgemäß gingen sie dann durch die Transportwagen, [...] entfernten Nichtdazugehörige, die versehentlich in die Wagen gekommen waren und ersetzten sie durch die Richtigen. Als alles in Ordnung war, verließ die Kolonne die Anstalt.«
Alois wurde mit den anderen von Herten nach Emmendingen verbracht, und damit ganz in die Nähe seines Heimatortes, denn die Entfernung zwischen Emmendingen und Bleichheim beträgt nur rund 15 Kilometer. Aus Gründen der Verschleierung erfuhr seine Familie davon erst im Nachhinein, als er bereits ermordet war. Der Name Emmendingen war mir seit meiner Kindheit bekannt. Machte man irgendwelchen Blödsinn, dann hieß es manchmal: »Du kommst wohl aus Emmendingen?« Auch »Irrenwitze« erfreuten sich unter uns Kindern großer Beliebtheit, die immer im »Irrenhaus Emmendingen« spielten.
Schließlich kontaktierte ich das heutige Zentrum für Psychiatrie Emmendingen. Im Februar 1999 erhielt ich von dort eine ausführliche Antwort. Man fügte mir die Broschüre »Sie holten sie mit grauen Bussen«5und die Kopie einer Karteikarte bei, die über Alois in Emmendingen geführt worden war. Darauf ist das Datum seiner Aufnahme (»A. 20.8.40«) und seiner Entlassung (»E. 6.9.40«) in eine unbekannte Anstalt (»Anst.?«) notiert. Er hielt sich in Emmendingen also nur knapp drei Wochen auf. Am 6. September 1940 wurde er weiter nach Grafeneck deportiert und dort direkt nach seiner Ankunft ermordet.
Das offizielle Todesdatum wurde von den Tätern um zehn Tage nach hinten verschoben.
Während meines Studiums trat ich dem »Bund der Euthanasie-Geschädigten und Zwangssterilisierten e.V.« bei, einem 1987 gegründeten und mittlerweile aufgelösten Opferverband. Bei Treffen des Berliner Arbeitskreises begegnete ich Menschen, die selbst zwangssterilisiert worden waren. Dadurch sensibilisiert suchte ich im Staatsarchiv Freiburg nach einem Anhaltspunkt, ob auch Alois diesen gewaltsamen Eingriff hatte erleiden müssen. Ich sah die Findbücher zu den Akten der Erbgesundheitsgerichte Freiburg, Emmendingen und Lörrach durch. Dabei stieß ich zwar auf 12 Anträge auf »Unfruchtbarmachung«, die Personen aus Bleichheim, und sehr viel mehr Anträge, die »Anstaltszöglinge« aus Herten betrafen. Da zu Alois keine Akte überliefert ist, kann davon ausgegangen werden, dass er nicht zwangssterilisiert wurde. Zwar war er im fortpflanzungsfähigen Alter. Aber von den Zwangssterilisationen auf Grundlage des »Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses« waren vorranging Menschen betroffen, die nicht in An-stalten untergebracht waren bzw. diejenigen Insassen, die nach Hause entlassen werden sollten.
Große Hoffnungen setzte ich im Verlauf meiner Recherchen in das Auffinden seiner Patientenakte, in der vor allem Informationen zu seiner Krankengeschichte enthalten waren. Als ich während meines Studiums erfuhr, dass Anfang der 1990er Jahre im ehemaligen »NS-Archiv« des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR Patientenakten von ca. 30.000 »Euthanasie«-Opfern entdeckt worden waren, wandte ich mich im April 1998 sofort an das Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde, in dem sie aufbewahrt werden.6Aber damals waren noch nicht alle Akten erschlossen und ich musste mich gedulden. Im Februar 1999 schrieb ich erneut dorthin und bekam zur Antwort, dass ca. 3.000 Akten noch nicht bearbeitet seien. Unter den 22.000 bereits bearbeiteten Patientenakten befinde sich die meines Großonkels leider nicht. Im März 2002 erhielt ich endgültig Bescheid: »Eine nochmalige Überprüfung der genannten Materialien verlief leider negativ.« Damit hatte sich meine Hoffnung, umfangreicheres Archivmaterial über Alois zu finden, zerschlagen.
Im Frühjahr 1999 nahm ich Kontakt zu meiner Großtante Margarete (1929-2005) auf, der damals letzten noch lebenden Halbschwester meiner Oma. Ihre Adresse ausfindig zu machen, war nicht einfach. Es kostete mich auch Überwindung, da meine Oma ja seinerzeit den Kontakt abgebrochen hatte. Margarete war im November 1929 zur Welt gekommen, als Alois bereits drei Monate in der St. Josephs-Anstalt lebte. Wir korrespondierten per Post miteinander. Die damals 69-Jährige schrieb mir: »Alois kannte ich nicht, er wäre auch ein gesunder und normaler Mensch gewesen wie die anderen, aber als Kind ist er Hilda mal so ungeschickt zu Boden gefallen, daß er eben ein Pflegefall wurde und das auch bezahlt werden will.« Ihre Bemerkung bezüglich der finanziellen Belastung, die Alois dargestellt habe, und die ihn letztlich als einen Kostenfaktor erscheinen ließ, überlas ich. Viel wichtiger war für mich die Neuigkeit vom Unfall, den meine Oma verursacht haben sollte. Margarete fuhr fort: »Natürlich hätte das einem andern auch passieren können, wenn man pflichtbewusst ist, nagt es doch am Gewissen.« Eine andere Verwandte bestätigte die Geschichte: Clothilde, die Witwe des Halbbruders Valentin (1927-1993), die ich ebenfalls kontaktiert hatte, schrieb mir: »Zu dem Bruder Alois hat mir Valentin erzählt, daß er ein normales Kind war, seine Schwester Hilda mußte auf ihn aufpassen und hüten, hatte ihn scheint's mit dem Kinderwagen umgekippt und von da an sei er nicht mehr normal gewesen.« Ich begann zu verstehen, warum meine Oma ihren Bruder so sehr verdrängt hatte, dass sie sogar einen anderen Namen (»Karl Friedrich«) für ihn erfunden hatte.
Vielleicht war ihre Behauptung, er sei »klein« gestorben, insofern wahr, als dass er für sie in dem Moment gestorben war, als sie ihn fallen gelassen hatte? Alois war zweieinhalb Jahre alt, als seine Mutter nach längerer Krankheit starb. Sein Vater stand nun bis zu seiner Wiederverheiratung alleine mit drei Kindern da. Vermutlich musste meine damals 10-jährige Oma im Haushalt helfen und auf den kleinen Bruder aufpassen. In dieser Situation könnte der Unfall passiert sein. Welche Schuldvorwürfe wurden ihr möglicherweise von ihrem Vater und ihrer Stiefmutter gemacht? Welche Gewissensbisse quälten sie Zeit ihres Lebens? Plötzlich erinnerte sich meine Mutter an ein Gespräch mit meiner Oma vor vielen Jahren. Darin hatte sie angedeutet, Angst zu haben, nach dem Tod in die Hölle zu kommen, weil sie schuldig am Tod ihres Bruders sei. Meine Mutter verstand damals nicht die Tragweite dieser Äußerung und versuchte meine Oma zu beruhigen, indem sie die Existenz einer Hölle bezweifelte. Von welchen Ängsten mag meine Oma heimgesucht worden sein, als sie 1942 ihren erstgeborenen Sohn Klaus in Armen hielt und ihn meiner Großtante Margarete (bei deren ersten und letzten Besuch) für einen kurzen Moment anvertraute? Ich vermutete nun, dass der Wegzug meiner Oma von ihrem Heimatort und der spätere Kontaktabbruch zu ihrer Familie mit dem Unfall zusammenhingen.
Von Margarete erhielt ich damals auch die einzige Fotografie, die sie von ihrem Elternhaus in Bleichheim besaß. Im Vordergrund waren meine Oma mit ihrer Stiefmutter und ihrem Halbbruder Felix (1925-1986) zu erkennen. Erst nach längerem genauem Betrachten entdeckte ich eine vierte Person, die Margarete auch übersehen hatte: Links am Langholz erkannte ich einen kleinen Jungen, bei dem es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um meinen Großonkel Alois handelt. Die Fotografie warf bei mir viele Fragen auf. Warum saß er abseits? Wollte er sich nicht für das Gruppenfoto zu den anderen gesellen, weil er lieber weiter spielen wollte? Oder war es den anderen nicht wichtig, dass er mit auf dem Foto war? War es Gleichgültigkeit oder schämte man sich seiner? Warum gibt es von meiner Oma und ihrem Bruder Oskar eine Fotografie aus Kindertagen, die im Fotoatelier entstanden ist, nicht aber von Alois? Gab es sie nie oder wurde sie später weggeworfen?
Im Jahr 1999 besuchte ich zum ersten Mal diese drei Orte. In Herten schaute ich mir das weitläufige Areal des heutigen St. Josefshauses an. Vor dem Hauptgebäude stand der kurz zuvor eingeweihte Gedenkstein, der an die Opfer der »Euthanasie«-Morde erinnert. In dem Gesteinsblock sind Menschen zu erkennen, die auf engstem Raum zusammengepfercht sind. Man sieht Gesichter mit vor Schreck aufgerissenen Mündern, Hände und ineinander verkrallte Leiber. Mehr noch als beim Gedenkstein beschlich mich beim Anblick des Laurentiushauses ein komisches Gefühl, da ich annahm, dass Alois darin gelebt hatte. Die hölzerne Eingangstür schien historisch zu sein. Vielleicht war er durch diese Tür ein- und ausgegangen? Einen Blick ins Innere des Gebäudes zu werfen, traute ich mich nicht.
Als ich das erste Mal in Emmendingen war, brauchte ich eine ganze Weile, bis ich das Zentrum für Psychiatrie überhaupt fand. Ich hatte nicht erwartet, dass es sich außerhalb der Stadt am Waldrand befindet. An der Pforte konnte man mir nicht sagen, wo sich auf dem Gelände das 1996 eingeweihte »Euthanasie«-Mahnmal befinde. Etwas orientierungslos irrte ich herum, bis ich es schließlich in der Parkanlage fand. Das Mahnmal mit einer symbolischen schiefen Ebene ist »Den Opfern hier begangenen Unrechts 1939-1945« gewidmet.
Am häufigsten besuchte ich in den folgenden Jahren Grafeneck. Bei meinem ersten Besuch zusammen mit meinen Eltern im August 1999 bot sich vor Ort noch ein ganz anderes Bild als heute. Neben dem Anstaltsfriedhof, auf dem die Asche von Ermordeten beigesetzt ist, existierte bereits die 1990 eingeweihte Gedenkstätte. Über eine Steinschwelle, in die die Namen von Heimen und Einrichtungen eingelassen sind, darunter auch Herten und Emmendingen, gelangte ich in die offene Kapelle. Daneben lag ein Gedenkbuch mit den Namen von Ermordeten aus. Ich war irgendwie erleichtert, darin auch den Namen von Alois zu finden. Die Allee in Richtung Schlossgebäude entlang laufend, stellte ich mir vor, dass diese Bäume auch damals gestanden haben mussten, als hier gemordet wurde. Vergeblich suchte ich den Standort des früheren landwirtschaftlichen Schuppens, in dem sich die Gaskammer befunden hatte. Dass die Samariterstiftung das Gebäude 1965 abgerissen und damit ihrerseits die letzten baulichen Spuren vernichtet hatte, war mir bekannt. Ich hatte aber erwartet, wenigstens einen Hinweis auf den früheren Standort zu finden. Im Schloss war eine sehr kleine Tafelausstellung zu sehen. Bei unserem Rundgang sprachen uns heutige Bewohner des Samariterstifts neugierig an. Für mich war verstörend, dass es Menschen zugemutet wird, an dem Tatort eines zehntausendfachen Massenmordes zu leben, inmitten eines Friedhofs. Ich persönlich war froh, den Ort wieder verlassen zu können.
Der Ort Grafeneck ließ mich nicht mehr los. Zum Abschluss meines Studiums 2005 schrieb ich meine Magisterarbeit mit dem Titel »Der Makel wird schwinden«. Darin untersuchte ich die spannungsreiche Geschichte der öffentlichen Erinnerung und Erinnerungsverweigerung, die sich in Grafeneck von 1945 bis in die Gegenwart manifestiert.7. Archivrecherchen führten mich zwangsläufig mehrfach dorthin. Ich konnte mich davon überzeugen, wie sich die Gedenkstätte seit meinem ersten Besuch weiterentwickelt hat. So wurde beispielsweise der ehemalige Standort des Tötungsgebäudes mittlerweile markiert. Heute gibt es auch ein Dokumentationszentrum mit einer größeren Dauerausstellung, die sich inhaltlich an einer 2002 erschienenen Monografie orientiert.8 Und auch die Anzahl der Besucher, die sich jährlich vor Ort mit der Geschichte auseinan-dersetzen, ist in den letzten Jahren stark angestiegen. Meine Magisterarbeit widmete ich meinem Großonkel Alois, ohne ihn dadurch als Kronzeugen für meine Forschungsergebnisse instrumentalisieren zu wollen. Trotz meiner Kritik am jahrzehntelangen Umgang mit der »Vergangenheit« in Grafeneck und auch teilweise an heutigen Formen des Gedenkens, trat ich 2010 dem Förderverein der Gedenkstätte Grafeneck e. V. bei.
Im Staatsarchiv Freiburg recherchierte ich im Zuge meiner Magisterarbeit zum »Grafeneck-Prozess«, der im Herbst 1948 in Freiburg geführt wurde. Ich war nicht darauf vorbereitet, beim Aktenstudium plötzlich zwei Dokumente zu entdecken, die Alois betrafen. Beide Schriftstücke gehörten zu den von der Staatsanwaltschaft zusammengetragenen Beweismitteln, um den organisatorischen Ablauf der Deportationen und Morde sowie die Gesamtzahl der Opfer nachweisen zu können.
Das erste Schreiben sandte die St. Josephs-Anstalt am 29. August 1940 an die Landkreiskasse in Emmendingen. Es ging um die Verpflegungskosten. Die Anstalt teilte mit, dass Alois »auf Anordnung des Ministeriums des Innern […] in eine andere Anstalt verlegt« worden sei. Die Kostenstelle werde von dort benachrichtigt. »Schlußabrechnung folgt.«
Das zweite Schreiben datierte vom 2. September 1940. Darin teilte der Direktor der Heil- und Pflegeanstalt Emmendingen, Viktor Mathes, dem Kreiswohlfahrtsamt mit, dass Alois »in die hiesige Anstalt aufgenommen« worden sei.
Die anfallenden Verpflegungskosten von täglich 1,60 Reichsmark würden fortan in Rechnung gestellt. Der Eingangsstempel des Landrates zeigt, dass das Schreiben dort am 6. September 1940 einging. Am selben Tag wurde Alois in Grafeneck ermordet.
Die beiden Dokumente stammten ursprünglich aus der Fürsorgeakte von Alois beim Kreiswohlfahrtsamt Emmendingen, dem Kostenträger seines jahrelangen Anstaltsaufenthaltes. Der Untersuchungsrichter am Landgericht Freiburg verfügte am 11. Juni 1947, dass die Fürsorgeakte an das Amt zurückgegeben werde. In der Hoffnung, dass sie im Archiv des Landratsamtes Emmendingen erhalten sein könnte, wandte ich mich dorthin. Aber zu meiner Enttäuschung teilte man mir mit, dass die Akten »aus damaliger Zeit« inzwischen vernichtet worden waren. Wohlgemerkt hatte die Akte 1947 noch existiert. Erst in der Nachkriegszeit wurde sie entsorgt.
Früh schon verspürte ich den Wunsch, öffentlich an Alois zu erinnern. An seinem 59. Todestag stand ich deshalb an der Gedenktafel in der Tiergartenstraße 4 in Berlin und verteilte ein selbst geschriebenes Flugblatt an Passanten. Darin thematisierte ich seine Ermordung, aber auch das »Totschweigen« nach 1945. In den darauf folgenden Jahren legte ich häufiger an seinem Todestag Blumen in der Tiergartenstraße und an seinem 66. Todestag am früheren Standort der Gaskammer in Grafeneck nieder. Zusammen mit meinen Eltern schrieb ich mich auch in das ausliegende Gästebuch der Gedenkstätte ein: Wir erinnerten daran, dass er »lange Zeit systematisch aus dem Familiengedächtnis ausgegrenzt wurde«.
In dem »Stolperstein«-Projekt des Künstlers Gunter Demnig sah ich schließlich die Möglichkeit, dauerhaft im öffentlichen Raum an Alois zu erinnern. Nachdem die Stadtverwaltung von Herbolzheim-Bleichheim ihre Genehmigung erteilt hatte, wurde der Stolperstein am 11. Juli 2010 vor dem Elternhaus in Bleichheim im kleinen Familienkreis verlegt. Zum 70. Todestag von Alois im September 2010 organisierte ich eine öffentliche Gedenkveranstaltung. Im Vorfeld versuchte ich zum letzten Mal, biografische Lücken zu schließen.
Wenige Tage vor der Gedenkfeier gewährte mir der Direktor des St. Josefshauses direkten Zu-gang zu dessen Hausarchiv. Endlich fand ich vor Ort die medizinische Diagnose von Alois, die mir trotz jahrelanger Korrespondenz nie mitgeteilt worden war.
In einem Verzeichnis, das nach den Deportationen 1940 erstellt worden war und Angaben zu allen ermordeten Insassen enthielt, stand bei Alois in der Rubrik »Leiden«: »Epilepsie, hochgradiger Schwachsinn«. In der Rubrik »Sonstiges« war vermerkt: »unrein, bildungsunfähig, ganz geringes Sprachverständnis, beantwortet nur lallend Frage nach Namen, nervlich unruhig«. In einem zweiten Dokument fand ich dazu ergänzend folgende Diagnose: »Angeborene Idiotie mit Epilepsie und Seelenstörung«.
Diese brutal formulierte Diagnose beraubt Alois jeglicher Individualität, indem sie ihn auf seine Krankheit und Behinderung reduziert und damit seine »Minderwertigkeit« festschreibt. Sie wurde ihm später mit zum Verhängnis. Alois erfüllte gleich mehrere »Selektionskriterien« seiner Mörder: Auf den Meldebogen, mit denen die Anstaltsinsassen zum Zwecke ihrer Deportation und Ermordung erfasst und anschließend von Ärzten begutachtet wurden, wurde nach der »Dauer der Anstaltsbehandlung« gefragt. Zu melden waren »sämtliche Patienten, die sich seit mindestens 5 Jahren dauernd in Anstalten befinden«. Alois lebte zu diesem Zeitpunkt bereits über zehn Jahre in der St. Josephs-Anstalt und hatte sicherlich keine günstige Zukunftsprognose. Auch nach der Arbeitsfähigkeit und der »Art der Beschäftigung« wurde gefragt. Aufgrund seiner Diagnose und der Beschreibung seines Zustandes ist davon auszugehen, dass er als unproduktiv eingestuft wurde. Weiteres »Selektionskriterium« war die tatsächliche oder angebliche Erblichkeit von Krankheiten wie »Idiotie« und »Schwachsinn« oder »Epilepsie«. Das Wort »angeboren« konnte über Leben und Tod mit entschieden haben.
Auch wenn die Diagnose und die Beschreibung seines Zustandes nicht viel über die tatsächliche Lebensrealität von Alois aussagen, waren diese neuen Informationen doch bedeutsam für mich. Ich konnte beispielsweise plötzlich ausschließen, dass er die Anstaltsschule jemals besucht hatte. Vermutlich wurde er auch als nicht »sakramentsfähig« angesehen, weshalb ich keinen Hinweis auf seine Erstkommunion oder Firmung hatte finden können. Zugleich merkte ich, dass das Wissen um seine Diagnose und seinen Zustand ein gewisses Unbehagen in mir hervorrief. Bis dahin hatte ich mir immer eingeredet, dass er sicherlich nur eine leichte Behinderung, eben von Zeit zu Zeit ein paar epileptische Anfälle, gehabt habe.
Wichtig für mich war auch, dass die Diagnose durch das vorangestellte Wort »angeboren« die überlieferte Geschichte vom Unfall im Kleinkindalter in Frage stellte. War auch diese Geschichte unwahr? Hatte man meiner Oma die Schuld für etwas gegeben, das sie nicht verursacht hatte? Eine mögliche Erklärung könnte darin bestehen, dass das Stigma, ein »erbkrankes« Mitglied in der Familie zu haben, das »angeborene Idiotie« aufwies, schwerer zu ertragen war, als die Geschichte vom Unfall. Zeigte sich die Wirkungsmächtigkeit der NS-Propaganda vielleicht noch Jahrzehnte später darin, dass meine Großtante Margarete mir gegenüber betonte, Alois sei vor dem Unfall »auch ein gesunder und normaler Mensch gewesen«?
Die zweite ärztliche Diagnose entnahm ich einem »Verzeichnis der wehrpflichtigen Pfleglinge des Jahrgangs 1921«, in dem 15 männliche Anstaltsbewohner aufgelistet waren, darunter auch Alois. Die Liste wurde am 26. April 1940 »mit je 2 Fotos« an das Bürgermeisteramt von Herten gegeben. Für einen kurzen Moment hoffte ich, vielleicht doch noch eine Porträtaufnahme meines Großonkels zu finden. Da er wehruntauglich war, konnten die Fotos vielleicht zusammen mit dem Ausmusterungsschein beim Bürgermeisteramt verblieben sein. Aufgeregt schrieb ich das Stadtarchiv Rheinfelden an und bat um Auskunft. Man teilte mir »nach eigehender Recherche« mit, dass dort leider keine Fotos vorhanden seien. Vermutlich seien die gesuchten Bilder »bereits in der NS-Zeit« vernichtet worden. Ich habe die Hoffnung noch nicht ganz aufgegeben, dass sich in den Unterlagen des Wehrbezirkskommandos, die im Militärarchiv Freiburg aufbewahrt werden, vielleicht das von mir gesuchte Foto befindet. Aber das Ganze scheint wie eine Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen.
Im Vorfeld der Gedenkveranstaltung erhielt ich erfreulicher Weise auch Zugang zum Gemeindearchiv in Bleichheim. Seit mehr als zehn Jahren hatte ich mich darum bemüht. Im August 1999 war mir mitgeteilt worden, dass das Archiv leider »nicht zugänglich« sei, aber eine Mitarbeiterin mit dem Ortsvorsteher vor Ort prüfen werde, »ob es irgendwelche Akten« über Alois gebe. Im März 2000 teilte man mir mit: »Trotz intensiver Suche konnten keine Unterlagen über Ihren Großonkel gefunden werden.« Jetzt stand ich in dem ungeordneten Archiv und stieß nach kur-zer Suche auf ein Aktenbündel mit Gemeinderechnungen aus den 1920er und 30er Jahren. Für die Monate September bis Dezember 1929 fand ich drei Rechnungen des Bezirksfürsorge-Verbandes Emmendingen, in denen er seine Ausgaben für Alois auflistete und der Gemeindekasse Bleichheim ein Drittel der entstandenen Kosten in Rechnung stellte.
Die Gedenkveranstaltung fand am 5. September 2010 statt und stieß auf großes öffentliches Interesse. Meine Familie hatte mit einer Todesanzeige in der Lokalzeitung an den 70. Todestag erinnert und zur Teilnahme an der Gedenkfeier eingeladen. Sie stand unter dem Motto: »Das Vergessen der Vernichtung ist Teil der Vernichtung selbst.«9Zahlreiche Verwandte, darunter auch viele Nachfahren sowohl aus der ersten, als auch der zweiten Ehe meines Urgroßvaters nahmen daran teil, und begegneten sich teilweise zum ersten Mal. Auch viele Einwohner aus Bleichheim waren gekommen. Unter den Teilnehmern waren auch der Direktor des St. Josefshauses Herten und der Bürgermeister von Herbolzheim. Da niemand in meinem engeren Familienkreis musikalisch ist, war ich überaus dankbar, dass sich der Musikverein Bleichheim an der Gestaltung beteiligte und die Feier musikalisch umrahmte. (Dabei durfte ein Klezmer-Stück nicht fehlen, obwohl Alois katholisch getauft war. Ich erwähne dies nur deshalb, weil es viel über deutsche Gedenkkultur aussagt.) Es war eine würdige Gedenkfeier. Ich selbst hielt eine Ansprache über das Leben von Alois und seinen gewaltsamen Tod. Dabei trat ich stellenweise in eine Art Dialog mit ihm und sprach ihn direkt an. Ich hatte gezögert, dieses rhetorische Mittel zu benutzen, denn ich war mir unsicher, ob ich das Recht dazu habe, so vertraulich zu tun. Ich kenne ihn nicht. Und er ist mir auch bis heute fremd geblieben.
Kürzlich schrieb ich für die Online-Enzyklopädie Wikipedia einen Artikel über Alois. Der kurze Text enthielt die wichtigsten Informationen zu seinem Leben und zum posthumen Gedenken. Meinen Beitrag verlinkte ich zu dem Artikel über seine Heimatstadt Herbolzheim-Bleichheim, sodass sein Name dort in der Rubrik »Söhne und Töchter der Stadt« auftauchte. Dies zu sehen, rührte mich beinahe zu Tränen. Für mich symbolisierte es, dass sich die Stadt zu ihm bekennt, auch wenn er keine berühmte Persönlichkeit war. Nur Stunden später hatte jemand einen Löschungsantrag gestellt und es begann eine Diskussion um die Relevanz meines Artikels. Jemand schrieb: »So tragisch seine Ermordung durch die Nationalsozialisten auch ist, eine enzyklopädische Bedeutung kann ich in der Person nicht erkennen«. Jemand anderes entgegnete: »Man sollte ihn nicht nochmal aus dem Leben drängen«. Nach einer Woche erfolgte schließlich die Löschung des Artikels.
Bleibt zu hoffen, dass der Stolperstein kein Schlussstein ist, sondern ein Stein des Anstoßes bleibt, der andere dazu anregt, immer wieder an Alois Zähringer zu erinnern.
Jörg Waßmer, März 2017
joerg.wassmer@googlemail.com
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