Problem- und Erfahrungsfelder
Eugenische Konzepte oder Ziele werden in der deutschen Öffentlichkeit und in der Politik weitgehend abgelehnt. 1995 wurde mit großer Mehrheit des Deutschen Bundestages die sog. embryopathische Indikation, die in der Kommentierung stets auch „eugenische Indikation“ genannt wird, zum Schwangerschaftsabbruch abgeschafft. Gleichzeitig wurde aber die medizinische Indikation um eine psychologische Indikation so erweitert, dass die bisherige embryopathische Indikation darin aufgeht.
Wenn die Geburt eines voraussichtlich behinderten Kindes für eine Schwangere eine schwerwiegende psychische und damit gesundheitliche Beeinträchtigung bedeutet, die anders nicht abgewendet werden kann, so ist der Abbruch legitimiert. Damit wird das Dilemma der öffentlichen Ablehnung eugenischer Ziele bei gleichzeitiger Ermöglichung persönlicher Entscheidungen, die eugenisch motiviert sein können oder zumindest eugenische Ergebnisse haben können, deutlich. Wesentliche Problemfelder in der Praxis sind:
- die Pränataldiagnostik (PND) mit anschließendem Schwangerschaftsabbruch
- die humangenetische Beratung
- die assistierte Reproduktion (In-vitro-Fertilisation, IVF und Präimplantationsdiagnostik, PID)
- die Reflexion der Debatte in der Behindertenbewegung und der Heilpädagogik
Die Entwicklung der invasiven Pränataldiagnostik (Fruchtwasserspiegelung oder Gewebeentnahme aus der Embryohülle) ist in den letzten 30 Jahren durch eine enorme Ausweitung gekennzeichnet. Während es 1976 nur knapp 1.800 Anwendungen gab, lag die Zahl 1999 bei über 67.000, 2001 bei 64.000 Anwendungen. Als Gründe für diese Ausweitung werden genannt:
- die Forderung von Schwangeren selbst, PND zu erhalten, obwohl sie nicht zu einer Risikogruppe gehören,
- die Klagemöglichkeiten auf Schadensersatz („Kind als Schaden“), wenn nicht zur PND geraten wurde, mit der Folge, dass die Ärzter zur Abwendung von Haftungsrückgriffen eher zu Anwendung raten
- die Verbreitung niedrigschwelliger Routinediagnostika in der normalen Schwangerenvorsorge, die zum Beispiel im Rahmen des allgemeinen Ultraschalls erfolgen und die aber nur Wahrscheinlichkeitsaussagen darüber machen, ob eine Behinderung vorliegt, so dass Anschlussuntersuchungen in Gestalt der invasiven PND notwendig sind.
Der Rückgang ab 2001 wird als Folge des allgemeinen Geburtenrückgangs bewertet, aber auch als Erfolg des Frühscreenings, das die Prognosesicherheit erhöht und damit weniger Anschlussuntersuchungen notwenig macht. Gründe für die Inanspruchnahme der PND*
- 81,9% schwer erträgliche Vorstellung, ein ganzes Leben für ein betroffenen Kind sorgen zu müssen
- 77,1% unzumutbaren Beeinträchtigung der eigenen Lebensplanung durch ein behindertes Kind
- 60,8% Benachteiligung der schon vorhandenen Kinder durch ein behindertes Kind
- 55.5% Beeinträchtigung der Partnerbeziehung durch ein behindertes Kind
- 41,6% Befürchtung einer sozialen Isolation der Familie
- 34,5% Befürchtungen finanzieller Beeinträchtigungen
*bei einer Befragung von 1.200 betroffenen Frauen Anfang der 1990er Jahre
Zwischen einem positiven pränatalen Befund und dem Abbruch der Schwangerschaft wird eine hohe Korrelation angenommen. In der Literatur werden hier meist Durchschnittswerte von 92% (meist bezogen auf die Diagnose Down-Syndrom) angegeben. Indirekt kann man aber die Folgen der zunehmenden Anwendung der PND und der damit eng zusammenhängenden Abbruchentscheidungen an der Zahl der geborenen Kinder mit Behinderung ablesen. So ist die Zahl der Neugeborenen mit Down-Syndrom in der Bundesrepublik Deutschland von 13,6 pro 100.000 Lebendgeborenen im Jahr 1976 auf 6,1 im Jahre 1994 zurückgegangen.
Während die Einzelentscheidung in der Regeln meist jenseits eugenischer Überlegungen getroffen wird, wird das Ergebnis in der kritischen Debatte mit dem Begriff der „Eugenik von unten“ bezeichnet. Eine zentrale Rolle kommt der humangenetischen Beratung vor und nach der Anwendung der PND zu. Eine internationale Untersuchung zu Schwangerschaftsabbrüchen nach dem Befund eines Klinefelter-Syndroms hat ergeben, dass 64,5% er Frauen die Schwangerschaft bei Beratung durch einen Genetiker fortführen, aber nur 28,1% bei Beratung durch einen nicht qualifizierten Berater. Eine andere Studie aus Boston zeigt, dass sich 40 % der Frauen nach einem PND-Befund des Down-Syndroms für die Fortführung der Schwangerschaft entschieden, wenn sie eine spezielle, ermutigende Beratung erfahren und ein psychosoziale Begleitung während der Schwangerschaft und nach der Geburt.
Die Entwicklung im Bereich der assistierten Reproduktion weist eine ähnliche quantitative Entwicklung auf wie die der PND. Während 1982 nur 742 IVF-Behandlungen in der Bundesrepublik durchgeführt wurden, waren es 2002 über 76.000. Die Ausweitung wird zum einen, ähnlich wie bei anderen Methoden der Hightech-Medizin, als Folge der zunehmenden Verbreitung des Angebots und der Anbieter, die sich einen Markt suchen, interpretiert, zum anderen mit der wachsenden Infertilität und der zunehmende Behandlung der Infertilität durch reproduktionsmedizinische Techniken begründet. Die Schnittstelle der IVF zur Eugenik liegt in ihrer Verbindung mit der Präimplantationsdiagnostik PID. Diese wird zwar auch diskutiert, um die Erfolgsrate der IVF als Unfruchtbarkeitsbehandlung zu verbessern.
Das Anwendungspotential der PID liegt aber darin, genetisch unerwünschte Embryonen von der Fortpflanzung auszuschließen oder auch genetisch erwünschte Embryonen auszuwählen, z.B. weil sie ein bestimmtes Geschlecht haben oder weil sie als potentielle Knochenmarksspender für bereits geborene Geschwisterkinder, die an Leukämie leiden, geeignet sind. Die IVF öffnet damit ein Fenster zu einer neoeugenischen Reproduktionsgenetik, die sich in drei Stufen entwickeln könnte:
- Wegwahl: Ja-Nein-Entscheidungen über das Austragen eines Kindes, genetische Selektion von Behinderten, Geschlechtsentscheidungen
- Auswahl: qualitative Entscheidungen zwischen einer Anzahl von Embryonen nach Erwünschtheit oder Eignung
- Genetic engineering: Bestimmung der Gen-Zusammensetzung eines Embryos
Die Behindertenbewegung diskutiert diese Entwicklung kritisch. Menschen mit Behinderung sehen sich nachvollziehbar in ihrem Existenzrecht bedroht und die Toleranz ihnen gegenüber brüchig, wenn die Geburt eines Kindes mit Behinderung als ein so großes psychisches Leiden anerkannt werden kann, dass damit der Abbruch der Schwangerschaft gerechtfertigt werden darf. Noch deutlicher wird diese Kritik bezüglich der möglichen Einführung der PID geäußert, da hier die genetische Unerwünschtheit direkt zur Vernichtung des Embryos führt. Die Heilpädagogik diskutiert die Fragen u.a. unter dem Aspekt von Nähe und Distanz.
Die Befunde der genetischen Beratung und der beratenden Begleitung vor und nach PND verweisen auf die Notwendigkeit der Entwicklung eines integrierten Beratungskonzeptes, in das Menschen mit Behinderung ebenso direkt einbezogen werden sollten, wie auch die Heilpädagogik als Disziplin. Im Mittelpunkt steht die Überwindung von Fremdheit und Uninformiertheit über ein Leben mit Behinderung. Basis ist das Verständnis für die Ängste und die Trauer, die bei werdenden Eltern bei einem positiven PND-Befund notwendigerweise und unausweichlich entstehen.