Ida Frieda Quaas

aus Naunhof

geb. in Naunhof
gest. in Brandenburg/Havel

Biografie

Zur Erinnerung an Frieda Ida Quaas

Wenn ich an meine frühe Kindheit in Naunhof zurückdenke, dann fallen mir zuerst die Sommersonntage im Garten meiner Großeltern ein. Da saßen Oma und Opa mit ihren erwachsenen Kindern und deren Familien an einem weißgedeckten Tisch unter den schattenspendenden Apfelbäumen. Auf dem Tisch stand Streuselkuchen und der  Kaffee wurde aus feinen blau-weiß gemusterten Tassen mit Goldrand getrunken. Teile des blau-weißen Services, die die Jahre überdauert haben, stehen auf einem Bord in unserem Esszimmer. Das Service war  nach dem Tod meiner Großmutter an deren Tochter Hildegart übergegangen und als diese starb bekam ich es. Dabei erfuhr ich, dass es sich gar nicht um ein Andenken an meine Großmutter handelt, sondern von deren Schwester Ida stammt.

Von Tante Ida gibt es zwei Fotos. Sie zeigen eine selbstbewusste junge Frau mit hochgestecktem Haar und nachdenklichem Blick. Auf dem einen Foto  trägt sie ein elegantes Kleid mit Pelzbesatz und auf dem anderen eine bestickte Folklorebluse. Alles selbst entworfen und genäht. Sie war gelernte Putzmacherin und zeichnete sich, wie ihre Nichte Hildegart immer wieder betonte, durch Geschmack und handwerkliches Geschick aus. Es hieß, Tante Ida sei vor meiner Geburt an Lungenentzündung gestorben. Sie wurde 47 Jahre alt. 

Als ich älter war, erzählte mir meine Mutter mehr. Tante Ida litt an Schizophrenie. Die Krankheit brach 1928 aus. Bis dahin hatte sie sowohl in ihrem Beruf  als auch als Haushälterin und Kindermädchen bei verschiedenen Familien gearbeitet. Sie war tüchtig und zuverlässig. Zuletzt besorgte sie den Haushalt ihres Bruders Robert und half ihm in seinem Geschäft. Er war Schuhmachermeister und verkaufte auch Schuhe. 

Alles war gut, bis sich Robert im fortgeschrittenen Alter entschloss zu heiraten. Nun übernahm seine Frau Margarete die Aufgaben ihrer Schwägerin. Im Haus Lange Straße 50 in Naunhof wurde es eng. Im Obergeschoß wohnte Idas Schwester Lina Wermann mit ihrem Mann und fünf  Kindern. Im Erdgeschoß befanden  sich der Schuhladen, Roberts Werkstatt und eine kleine Wohnung für seine mittlerweile 4-köpfige Familie. Da war kaum Platz für die  inzwischen 35jährige Ida. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich wieder eine Stelle zu suchen. Das hieß, die lange genossene Selbständigkeit aufzugeben und  sich einem Arbeitgeber unterzuordnen. Sie reagierte darauf in zunehmendem Maße  mit Angstzuständen, Ruhelosigkeit und Anzeichen von Verfolgungswahn. 

Als sie 1931 ihre Schwester Else in Leipzig besuchte und -  nachdem sie deren Wohnung verlassen hatte - hilflos in der Stadt umherirrte, wurde ihre Erkrankung aktenkundig. In der Nervenheilanstalt der Universitätsklinik Leipzig diagnostizierten die Ärzte Schizophrenie und wiesen sie in die Heilanstalt Hubertusburg bei Wermsdorf ein. 

Der mir vorliegenden Krankenakte entnehme ich, dass sich die Familie, vor allem  Robert Quaas, intensiv um Ida kümmerte. Weil sie unbedingt nach Hause wollte, setzte Robert – indem er alle Verantwortung für sie übernahm – durch,  dass sie im September 1931 einen vierwöchigen Urlaub bekam und anschließend entlassen wurde. Als sich der Zustand der Kranken jedoch verschlechterte und sie immer teilnahmsloser wurde, bat er die Ärzte in Wermsdorf um Hilfe. Sie wurde nicht gewährt. Stattdessen musste Ida im April 1932 wieder in die Heilanstalt zurück. Sie galt nun als unheilbar krank und unfähig, für sich selbst zu sorgen. Die Klinik durfte sie bis zu ihrem Tod 1940 nicht mehr verlassen.

Meine Eltern haben Tante Ida mehrfach in der Hubertusburg besucht. Sie erlebten die Kranke an guten und schlechten Tagen. Da sie die Arbeitstherapie  - also Haus- und Gartenarbeiten - verweigerte und stattdessen fleißig handarbeitete, freute sie sich besonders über Material dafür. Bei einem dieser Besuche war sie sehr erregt und erzählte, nachts würde man Gift durch die Schlüssellöcher blasen und die Patienten töten. Deshalb schlafe sie nicht, sondern halte sich immer in der Nähe der Fenster auf, die geöffnet seien. Meine Eltern nahmen diese Äußerungen für einen  Ausdruck des Verfolgungswahns, unter dem die Kranke auch schon früher zu Hause gelitten hatte.

Bei ihrem nächsten Besuch erfuhren sie, dass Tante Ida in eine andere Klinik verlegt werden musste. Die Familie bekäme noch Bescheid. Stattdessen trafen kurz darauf aus Süddeutschland die Urne und ein Begleitschreiben ein, in dem es hieß, die Kranke hätte eine Lungenentzündung nicht überstanden.

Nach Ende des Krieges war schnell klar, dass Frida Ida Quaas der Euthanasie zum Opfer gefallen war. Wo und wie sie starb, konnte die Familie nicht herausfinden. Das Entsetzen über ihren Tod wurde noch verstärkt, weil die Nichte ihres Schwagers Paul wohl ein ähnliches Schicksal erleiden musste. Die junge Kriegerwitwe wurde  nach der Geburt ihres ersten Kindes  - vermutlich wegen einer Schwangerschaftsdepression - weggesperrt und 1943 umgebracht. Ihren Sohn nahm die Großmutter bei sich auf.

In unserer Familie wurde nicht viel über Tante Ida gesprochen. Vielleicht waren es der Schmerz über ihr Schicksal, diffuse Schuldgefühle oder gar die Scham wegen der psychischen Erkrankung die dazu führten. Naunhof war eine Kleinstadt, in der jeder jeden kannte. Psychische Erkrankungen und die Einweisung in eine „Klapsmühle“ sprachen sich schnell herum und hätten womöglich zur Stigmatisierung und zur sozialen Isolierung geführt. Das konnten sich selbständige Handwerksmeister wie mein Großvater Max Wermann und Robert Quaas nicht leisten.

Leider ist es mir erst jetzt gelungen, die Krankenakte meiner Tante vom Bundesarchiv zu bekommen. Aus ihr geht hervor, dass sie bereits im April 1940 in die Heilanstalt Zschadraß verlegt,  von da am 4.Juni in die Tötungsanstalt Brandenburg überführt und noch am gleichen Tag ermordet wurde.

Alle, die Frida Ida Quaas noch kannten, sind tot. Ich bin die Einzige, die sie zwar nie kennengelernt hat, sich aber dank der Familiengeschichte an sie erinnert. Ihr Schicksal berührt mich sehr. Ich weiß, dass Schizophrenie eine unheilbare und schwer zu behandelnde Krankheit ist. Sie kann durch genetische Veranlagung, Stoffwechselstörungen im Gehirn und große psychische Belastungen ausgelöst werden. Letztere spielten vermutlich auch bei Tante Ida eine Rolle. Für mich ist sie eine Frau, die mehr vom Leben wollte als heiraten und Kinder kriegen. Während ihre Schwestern nur Weißnähen  zur Vorbereitung auf die Ehe lernten, setzte sie eine Ausbildung zur Putzmacherin durch. Sie ging gern ins Theater und fiel mit ihren originellen, selbst entworfenen Kleidern auf. Im Geschäft ihres Bruders konnte sie selbständig arbeiten und eigene Ideen umsetzen. Das gefiel ihr und auch den Kunden. Sie war kreativ, eigenwillig und unangepasst. Vielleicht liebten sie Ihre Nichten und Neffen gerade deshalb. Es gibt eine vergilbte Grußkarte, auf der steht: „für meine liebe Tante Idchen“.

Mich hat  beeindruckt, wie sie trotz der Krankheit versuchte, ihre Würde zu bewahren, indem sie, statt an der Arbeitstherapie teilzunehmen, feine Handarbeiten machte und  sich dem Massenbetrieb der Psychiatrie mit großen Schlafsälen und Gemeinschaftsräumen entzog, indem sie sich abkapselte und die „innere Emigration“ wählte. Mehrere Listen führen auf, welche Kleidungsstücke sie besaß. Es sind nur wenige. Trotzdem wird in der Krankenakte  erwähnt, wie penibel sie auf ihr Äußeres achtete. Als man ihr die Ohrringe wegnahm, wehrte sie sich vehement dagegen. Ob sie die berüchtigte Schlaftherapie oder die damals üblichen Elektro- und Insulinschocks erleiden musste, ist der Krankenakte nicht zu entnehmen. Auch welche Medikamente sie bekam, bleibt offen. Dagegen gibt es zahlreiche Protokolle über eine Gesprächstherapie. Aus heutiger Sicht fällt  auf, dass die wechselnden Therapeuten nie versucht haben, ein Vertrauensverhältnis zu der Patientin aufzubauen. Sie fragen Schulwissen ab (soll das ein Intelligenztest sein ?), interessieren sich aber weder für Idas Leben vor der Erkrankung, noch für ihre Familie oder ihre Interessen. Auch über die  Krankheit klärt man sie nicht auf. Stattdessen muss sie  immer wieder ihre Wahnvorstellungen schildern. Sie hält sich für eine Prinzessin von Hohenzollern. Ich habe gelesen, dass Schizophrene mit der vermeintlichen Flucht in adelige Kreise versuchen würden, ihr zerfallendes Selbst zu retten, und das leuchtet mir ein. Auch dass sie davon spricht, „geführt“ zu werden, passt zum Krankheitsbild.

Ich gehe davon aus, dass die Protokolle dem Stand der damaligen Gesprächstherapie entsprechen. Allerdings weiß ich nicht, was es bringen soll, wenn man die Kranke immer wieder mit ihrem Wahn, fremdbestimmt zu sein, konfrontiert.  Sollte sie nicht stattdessen in die Realität zurückgeführt werden?

1981 hat die prominente DDR-Autorin  Sibylle Muthesius ein Buch geschrieben, in dem sie schildert, wie es Mitte der 60er Jahre ihrer an Schizophrenie erkrankten Tochter – die 18jährige  nahm sich  schließlich das Leben - in  psychiatrischen Kliniken erging. „Flucht in die Wolken“ durfte  wegen der kritischen Haltung zur Psychiatrie erst nach langem Zögern veröffentlicht werden. Bei der Lektüre musste ich immer wieder an die Krankenakte meiner Tante denken. Muthesius` Tochter gehörte zu den privilegierten DDR-Bürgern, aber ihr erging es in den Kliniken nicht viel besser als  meiner Tante, die 25 Jahre vorher in ähnlichen Heilanstalten war und zur unteren Behandlungsklasse gehörte. Der „Spiegel“ schrieb 1982 nach Erscheinen der westdeutschen Ausgabe: „ Aus dem Buch lässt sich die Erkenntnis gewinnen, dass das Elend in der Psychiatrie gesamtdeutsch ist“.

Obwohl Frida Ida Quaas seit 1931 als geschäftsunfähig galt, bekam sie keinen Vormund. Kurze Zeit war das wohl mein Großvater Max Wermann. Aber seine Betreuung wurde ohne Angaben von Gründen eingestellt. 1939 wollte  der Naunhofer Anwalt Kurt Sperling wissen, ob für die Kranke ein Betreuer bestellt worden sei. Man antwortete ihm, dafür gebe es keinen Anlass. Wusste man damals schon, dass sich Patienten der Psychiatrie ohne Vormund, der über jede Aufenthaltsveränderung hätte informiert werden müssen, leichter in die Tötungsanstalten abschieben ließen? War ihr Schicksal schon besiegelt ? Schizophrenie gehört  zu den teuersten psychischen Erkrankungen. Der Bezirksfürsorgeverband  der Amtshauptmannschaft Grimma fragte wohl deshalb wiederholt an, ob sich der Zustand von Frida Ida Quaas gebessert habe, und sie nach Hause entlassen werden könne. Das wird regelmäßig verneint. 1939 steht zum ersten Male in der Krankenakte, dass die Kranke zugänglicher geworden sei, und es ihr besser gehe. Konsequenzen werden daraus nicht mehr gezogen. Nach dem  Tod ihres Mannes 1938 kümmerte sich Margarete  Quaas um ihre Schwägerin. Sie erhält am 04.06.1940 – dem Todestag von Ida Quaas - die Nachricht, dass ihre Schwägerin in eine andere Heilanstalt verlegt worden sei. Übermittelt wird diese  Nachricht auch an die Staatsanwaltschaft Leipzig, die Landesversicherungsanstalt Sachsen, das Amtsgericht Grimma und den Landrat von Grimma. Sie  ist unterschrieben von einem  Herrn oder einer Frau Böhme. Auf dem Schreiben befinden sich noch zwei weitere unleserliche Unterschriften. Haben diese  Personen entschieden, Frida  Ida Quaas umzubringen? Beförderte  ihre Verweigerung, an der Arbeitstherapie teilzunehmen, die so ausgerichtet war, dass sie vor allem der Heilanstalt half, Kosten zu sparen, dieses Todesurteil? Und wollte man mit diesem Schreiben den Eindruck vermitteln, alles sei gesetzeskonform verlaufen? Einen Totenschein und das Schreiben, in dem der Familie Idas Tod mitgeteilt wurde, vermisse ich in der Akte. Sie enthält  übrigens mehrere Dokumente, die von einem Herrn oder Frau Henker unterschrieben sind. Nomen est omen!

Zu den Werten unserer Gesellschaft gehört, dass die Würde des Menschen unantastbar ist und Kranke und Behinderte besonders schutzbedürftig sind. In den Zeiten des Nationalsozialismus setzte man sich darüber hinweg und entschied, welches Leben wert oder unwert ist. 

Wir sollten nie vergessen, was Bertolt Brecht  in seinem Drama „Der unaufhaltsame Aufstieg des Arturo Ui“ mahnend sagt: „Der Schoß ist fruchtbar noch aus dem das kroch“.

Monika Kummerhoff, Herten, April 2024

Orte der Biografie

Geburtsort: Naunhof

Naunhof
Deutschland

Hauptaufenthaltsort: Naunhof

Naunhof
Deutschland

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