Ernst Putzki
Arbeiter aus Hagen (Nordrhein-Westfalen) (evangelisch)
geb.
in
Mettmann (Nordrhein-Westfalen)
gest.
in
Hadamar
Arbeiter aus Hagen (Nordrhein-Westfalen) (evangelisch)
geb.
in
Mettmann (Nordrhein-Westfalen)
gest.
in
Hadamar
Diese Zeilen schrieb Ernst Putzki am 3. September 1943 aus der psychiatrischen Anstalt Weilmünster, in die ihn NS-Ärzte wegen angeblicher Schizophrenie eingewiesen hatten. Der an seine Mutter in Wehringhausen adressierte Brief kam nie an. Um die Verbrechen an den Insassen zu verschleiern, hielt die Anstaltsleitung das Schreiben zurück. Es verschwand in seiner Patientenakte, bis es nach Jahrzehnten im Archiv wiederentdeckt wurde – zusammen mit weiteren Briefen, Postkarten, Gedichten und Zeichnungen.
Am 27. Januar 2017, dem 72. Jahrestag der Befreiung des KZ-Auschwitz, wurde Ernst Putzkis Name landesweit bekannt. An diesem Tag gedachte der Bundestag der rund 300.000 Menschen, die die Nazis wegen körperlicher und geistiger Beeinträchtigungen ermordet hatten. Im Parlament wurde sein erschütternder Brief in voller Länge verlesen, um an die entsetzlichen Leiden der Euthanasie-Opfer zu erinnern.
Ernst Putzki wurde am 15.3.1902 im Kreis Mettmann geboren. Er hatte sieben Geschwister. Sein Vater arbeitete als Weichensteller bei der Bahn. Ernst Putzki besuchte in Hagen die Volksschule, danach war er hier als Fabrikarbeiter tätig. 1919 war er einige Monate bei der Reichswehr, „hauptsächlich aus Abenteuerlust“, wie er selbst sagte. Der Betrieb habe ihm allerdings nicht gepasst. Als sein Vater schwer erkrankte und mit 57 Jahren an Krebs starb, kehrte er nicht wieder zur Truppe zurück und wurde entlassen. Wie sein verschollener Bruder Heinrich ging Ernst auf Wanderschaft. „Wir haben eben Wanderblut“, erklärte er später bei einer Befragung.1
Zwischen 1921 und 1930 verschlug es ihn immer wieder nach Nord- und Nordostdeutschland, wo er meist auch Arbeit fand. Putzki blieb nicht lange an einem Ort. Seine Wege führten ihn ferner nach Berlin, Pommern und auf die Insel Rügen.2 Zwischendurch kehrte er immer wieder nach Hagen zurück. Hier arbeitete er in verschiedenen Betrieben, u.a. in der Schraubenfabrik Funcke & Hueck, im Emaillierwerk Altenloh & Falkenroth sowie in Hohenlimburg bei Boecker & Röhr und in der Stoffdruckerei Moritz Ribbert. Nirgendwo hielt er es lange aus. Ihn zog es hinaus aufs Land, wo es ihm nach eigenem Bekunden besser gefiel. Putzki kam nach Hagen, um seine Mutter zu besuchen, zu der er ein sehr enges Verhältnis besaß und die später verzweifelt um ihn kämpfte, als er ins Visier der Nazis geriet.
Noch war Ernst Putzki ein gesunder Mann, dem die schwere Arbeit in Fabriken und auf Guts- und Bauernhöfen wenig ausmachte. Als „Tippelbruder“, so seine Eigenbezeichnung, legte er weite Strecken zu Fuß zurück. 1926 lief er von Rügen nach Westfalen, trotz geschwollener Füße, erstes Anzeichen für ein Gichtleiden, das ihn später massiv plagte. 1928 begab er sich in ärztliche Behandlung, die aber erfolglos verlief. Deshalb versuchte er sich mit Zimt (ein altes Heilmittel gegen Gicht, R. S.) und Tabletten selbst zu kurieren. Eine Zeitlang konnte Putzki sein unstetes Leben fortsetzen. Den Sommer 1932 genoss er in vollen Zügen. Er schrieb:
„Damals wohnte ich in Hannover ‚Am Grasweg 21‘. Trotz meines Arbeitsdranges gehörte ich auch zu dem Heer der Erwerbslosen. Der Name der Straße in der ich wohnte mußte wohl nicht umsonst so genannt sein denn es trieb mich wirklich aufs Gras, auf die nahegelegene damalige Marschwiese. Als Sportliebhaber füllte ich die Untätigkeit damit aus, um mit anderen Erwerbslosen in Spiel und Sport die Zeit totzuschlagen. Es war der schönste Sommer meines Lebens und ein Tag war wie der andere mit Sonnenschein und Hitze ausgefüllt. Der Hannoversche Anzeiger schrieb von 38 Grad Hitze und ‚Tropischer Sommer‘. Bald waren wir von der Sonne geschmort. [...] Obwohl ich schon in den letzten Jahren unter rheumatische(n) Beschwerden litt, war ich so flink und gewandt, daß es die Bewunderung der Spielgefährten hervorrief...“3
Putzki schrieb diese Zeilen zehn Jahre später, verklärt zurückblickend auf eine Zeit, als er noch volle Gewalt über seinen Körper hatte. Zunehmend ging es ihm schlechter. Er sei im heißen Sommer übermäßig oft baden gegangen, was sich nachteilig auf seinen „rheumatisch angehauchten Körper“ ausgewirkt habe. Nach erfolgloser Selbsthilfe habe er im April1933 das Städtische Krankenhaus I in Hannover aufgesucht4, wo er stationär behandelt wurde.
Putzki litt an „Arthritis deformans“, vor allem an den Fußgelenken und der unteren Lendenwirbelsäule. Wochenlang verbrachte er im Gipsbett. Als sich bei Aufstehversuchen stärkere Gelenkbeschwerden einstellten, verordneten die Ärzte weitere vier Wochen „Bettruhe im Gipsbett“. Dann sei durch Injektionen eine Besserung erzielt worden, die am 7.10.1933 zu seiner Entlassung führte5 – eine beschönigende Darstellung seines Gesundheitszustandes. Denn nach wie vor war Putzki in seinen Bewegungsabläufen („Gang noch unbeholfen“) massiv eingeschränkt und buchstäblich nicht in der Lage, auf eigenen Füßen zu stehen. Er kam ins Annastift in Hannover, eine evangelische Einrichtung zur Betreuung körperbehinderter Menschen („Krüppelfürsorge“). Putzki selbst schrieb Jahre später:
„Es war einmal und kommt nicht wieder,
da hatte ich gesunde Glieder,
damit ging ich ins Krankenhaus
und kam als Krüppel wieder raus!!!“6
Wanderarbeiter bzw. „Landstreicher“ wie Putzki passten nicht ins Weltbild der im Januar 1933 an die Macht gelangten Nazis. Mit Bettlern, „Arbeitsscheuen“ und anderen Randgruppen wurden sie zu „Gemeinschaftsfremden“ und Schmarotzern abgestempelt, die auf Kosten der Volksgemeinschaft lebten. Schon im September führten Polizei und SA eine reichsweite Aktion gegen Bettler und Landstreicher durch. Zehntausende wurden verhaftet, zu kurzen Haftstrafen verurteilt und zum Teil in Arbeitshäuser eingewiesen. Zahllose „Asoziale“ starben später in den Konzentrationslagern. Bereitwillig passte man sich auch im Annastift den neuen Gegebenheiten an. Nach und nach wurden die „nichtarischen“ Ärzte entlassen. Im Oktober 1933 erklärte Leiter Friedrich Arends auf einer Jubiläumsfeier, er hoffe, dass die nationale Begeisterung „auch der Krüppelfürsorge einen neuen Aufschwung“ bringen werde. Pastor Arends schloss den offiziellen Teil der Veranstaltung mit einem dreifachen Sieg-Heil auf „die Führer unseres Volkes“, dem Absingen des Deutschlandliedes sowie des Horst-Wessel-Liedes.7
Vielleicht bekam Putzki die Veränderungen am eigenen Leib zu spüren. Auffällig schnell wurde er aus dem Stift entlassen, das mit Wohnheim, medizinischer Fachabteilung und diversen Werkstätten auf eine dauerhafte Betreuung der Patienten ausgerichtet war. Am 18. November 1933 schob man ihn ins städtische Obdachlosenheim ab, wo er auf der „Krankenstube“ nur unzureichend medizinisch versorgt werden konnte. Bei einem Hausbesuch konstatierte der zuständige Vertrauensarzt: „Beinmuskelschwäche, Kniearthritis. Gehen ist sehr schlecht.“ Am 20. Dezember 1933 kam Putzki in die Heil- und Pflegeanstalt Wunstorf bei Hannover.8
Laut seiner Wunstorfer Krankenakte zeigte sich Putzki zunächst willig, zufrieden und höflich. Er stehe regelmäßig auf und übe fleißig mit dem Geh-Apparat. Zeitweilig war er als „Hausreiniger“ eingesetzt. Putzki schrieb später, er habe einen seiner zwei Stöcke beiseite legen können und den Boden im Schlafsaal gebohnert, sodass „er zu einem Spiegelsaal wurde.“ Nie mehr sollte es ihm körperlich besser gehen als im Frühjahr 1934. Ohnehin war die Heilung seiner chronischen Arthritis ausgeschlossen. Die Klinik stellte einen Antrag auf Invalidenrente. Man bewilligte Putzki eine dürftige Unterstützung von 16,70 Reichsmark im Monat, was etwa dem entsprach, was ein Arbeiter in drei Tagen verdiente. Er selbst profitierte nicht davon. Für die Dauer seines Aufenthaltes wurde der Betrag auf das Konto der Anstalt überwiesen.
Vor seiner Krankheit hatte Putzki ein unstetes, relativ ungebundenes Leben geführt. Umso mehr litt er unter der Enge der Anstalt. Er grübele viel über sein Leiden nach und mache sich„darüber seine eigenen, unverbesserlichen Gedanken“. Tatsächlich hatte er seit Hannover ein gespaltenes Verhältnis zu Medizinern. Auch in Wunstorf misstraute er den Behandlungsmethoden. Grundsätzlich aber ordnete sich Putzki den Gegebenheiten unter und zeigte sich weitgehend zufrieden. Da er sich „im allgemeinen ruhig verhielt“, bekam er größere Bewegungsfreiheit zugestanden, die ihm jedoch Anfang 1935 entzogen wurde.
Putzki hatte sich unbeliebt gemacht. In einem Brief an seinen Bruder beklagte er sich über das Essen und bat, bessere Kost für ihn zu beantragen. Als er erfuhr, dass man sein Schreiben zurückhielt, reagierte er ungehalten, laut Krankenblatt „in schnippisch-ironischem Ton“. Er sei überhaupt ein „unangenehmer, quänglerischer Kranker“ und wurde auf eine andere Station strafverlegt. Putzki stellte die Maßnahme in Frage und verlangte Briefpapier, um sich zu beschweren.
Von nun an betrieb er seine Entlassung. Sein langjähriger Freund Friedrich Schaper erklärte sich der Anstalt gegenüber bereit, Putzki bei sich in Hannover aufzunehmen. Das Wohlfahrtsamt äußerte größte Bedenken. Schaper sei arbeitslos, vorbestraft und bewohne mit Ehefrau und Stiefkind eine „ärmliche Hinterhauswohnung in der Altstadt“. Das Gesuch wurde abgelehnt. Vergeblich wandte sich Putzki an das zuständige Gericht. Seine Klage wegen„Freiheitsberaubung“ blieb ebenso erfolglos wie seine Beschwerde beim Oberpräsidenten in Hannover. Von dort wurde ihm mitgeteilt, man sehe keinen Anlass gegen die Anstalt vorzugehen. Er möge sich der Hausordnung fügen. Dadurch könne er seine Lage nur verbessern.
Putzki aber zeigte sich weiterhin „widerspenstig“ und „unverträglich“. Die Folgen blieben nicht aus. Bald fühlte sich Putzki schikaniert. Man wolle ihn reizen, damit er ins Bett müsse. Durch die vielen Medikamente habe er schließlich nicht mehr klar denken können. Tatsächlich wurde er zeitweilig mit Spritzen ruhig gestellt. Nach zweijährigem Aufenthalt in Krankenhäusern und Pflegeanstalten, gegen seinen Willen festgehalten und entmutigt, verhielt er sich zunehmend misstrauisch. Schließlich verweigerte er die Nahrung und wurde zwangsweise ernährt, mit Hilfe eines Schlauches, der durch die Nase in den Magen geführt wurde, eine schmerzhafte Prozedur, die ihn zum Abbruch des „Hungerstreiks“ veranlasste. Am 19. März 1935 wurde er wegen seiner „Wahnvorstellungen und Erregungszustände“ in die Geisteskranken-Abteilung eingewiesen.
Mit erstaunlicher Energie setzte sich Putzki auch fortan zur Wehr. Er sei zu Unrecht in der „Klappsmühle“ gelandet, schrieb er an Freunde und Verwandte. In einem Brief hieß es: „Ich bin weder Psychopath noch bin ich sonstwie krankhaft veranlagt! Meine einzigste Krankheit ist: ich bin Wahrheits- Gerechtigkeits- und Freiheitsliebend.“ Auf Initiative Putzkis setzten sich nun auch seine Hagener Verwandten für die Freilassung ein. Anfang Mai 1935 erklärte seine Mutter Maria, sie übernehme voll und ganz die Bürgschaft für die Zukunft ihres Sohnes. Wunstorf ließ sich Zeit. Nach zwei Monaten bat Maria Putzki um „Beschleunigung“ der Angelegenheit. Am 10. Juli 1935 durfte sie ihren Sohn, der nicht allein reisen konnte, aus Hannover abholen.
„Durch die Anstaltseinweisung bedingte paranoische Reaktion bei einem schizoiden Psychopathen.“ So lautete die abschließende offizielle Diagnose. Sie kommt nicht umhin, den Anstaltsaufenthalt selbst für Putzkis Probleme mitverantwortlich zu machen. Noch deutlicher heißt es in einer Stellungnahme des zuständigen Arztes vom 13. Mai 1935: „Die bei ihm (Putzki, R.S.) aufgetretenen psychischen Störungen sind m.E. größtenteils auf die lange, von ihm als widerrechtlich empfundene Anstaltsinternierung zurückzuführen.“ Somit stellt sich die Frage, warum Putzki in Wunstorf mehr als 18 Monate festgehalten wurde.
Nach der Entlassung zog Ernst Putzki zu seiner 65-jährigen, zweimal verwitweten Mutter Maria in die Franklinstraße 21. Somit wurde das Hagener Gesundheitsamt für seine „Betreuung“ zuständig. Volkspflegerin (Fürsorgerin) Mantz forderte einen Auszug aus seiner Krankenakte in Wunstorf an. Umgehend kam die Anstalt dem Wunsch nach und rollte den Fall wieder auf. Putzkis Verhalten, besonders seine Anzeigen gegen die Anstaltsleitung, hätten gezeigt, dass „eine ausgesprochene Geisteskrankheit, Schizophrenie“ vorliege. In einem Schreiben an den Staatsanwalt in Hannover hieß es, Putzki stelle „doch wohl“ eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar. Die Unterbringung in einer. Anstalt sei dringend anzuraten. Am 18. September 1935, zwei Monate nach seiner Entlassung, erstattete Wunstorf beim Hagener Gesundheitsamt Anzeige wegen des Verdachts auf Schizophrenie aufgrund desNS-„Erbgesundheitsgesetzes“. Dieses sah vor, „minderwertige“ Personen mit bestimmten Krankheiten zum „Schutz der Rasse“ zu sterilisieren.
In Hagen schien man die Anzeige nicht als vorrangig zu betrachten. Näheres geht aus der 1935 angelegten Akte des Gesundheitsamtes zunächst nicht hervor. Aus den ersten vier Jahren gibt es keinerlei Aufzeichnungen. Offensichtlich ist die Akte unvollständig.9 In jedem Fall standen Ernst Putzki und seine Mutter von nun an unter Beobachtung der lokalen Behörden. Das zeigen zwei Berichte, die Volkspflegerin Wicke am 20.1.1941 und am 10.2.1941 an das Gesundheitsamt schickte. Sie fielen positiv aus: Maria Putzki sei eine sehr brave und gesunde Frau, die ihren Sohn bestens versorge.
Über Ernst heißt es: „Arbeiten kann er nicht, er bastelt zeitweise und macht Geschenke für die Familie. Er liest und beschäftigt sich viel mit religiösen Fragen. So lange die Mutter lebt, ist eine weitere Beobachtung nicht mehr nötig, zumal Putzki sich im allgemeinen durchaus ruhig verhält und zugänglich ist.“ Wicke sprach sich sogar dafür aus, Maria Putzki – sie hatte die erforderliche Anzahl von Kindern in die Welt gesetzt – bei der Verteilung des Ehrenkreuzes (Mutterkreuz) zu berücksichtigen.
Gerda Kramer, geb. 1932, die mit ihren Eltern seinerzeit in der Franklinstraße 24 wohnte, erinnert sich noch nach Jahrzehnten an Ernst Putzki. Er sei ein freundlicher Mensch gewesen. Häufig habe er auf der Fensterbank im Parterre gegenüber gelehnt, das Leben auf der Straße beobachtet und mit Nachbarn und spielenden Kindern gesprochen. Auf Anfrage habe er für die Kinder von Nachbarn gebastelt. Ihre Schwester Gisela habe von ihm in ganz jungen Jahren ein bewegliches Holzspielzeug mit Rädern und einer Tierfigur bekommen. Die Kinder hätten ihn „Ernstchen“ genannt.10 Diesen Spitznamen (auch„Ernstchen Putzig“) hatte er sich augenzwinkernd selbst gegeben. Er war ein schwächlicher Mann mit gebückter Haltung, nur 160 cm groß, dessen Hüftgelenke und untere Wirbelsäule weitgehend versteift waren. Beim Gehen war er auf zwei Stöcke angewiesen.
In Wunstorf hatte Putzki den Ärzten misstraut und sich als Versuchsobjekt betrachtet. Diese Erfahrungen ließen ihn nicht mehr los. Wiederholt verlangte er Wiedergutmachung. Auch am 23. März 1942 forderte er in einem Schreiben an das Gesundheitsamt seine Rechte ein. Er habe seine Gesundheit für die medizinische Wissenschaft geopfert und habe es deshalb nicht nötig, „wie ein kranker Hund unter Menschen zu leben“. Er verlangte eine auskömmliche Rente für sich, die nach seinem Tod an die Mutter weitergezahlt werden solle. Mit seinem Anliegen wolle er sich an den Reichsärzteführer wenden. Putzki bat um entsprechende Amtshilfe.11
Mit seiner naiv anmutenden, ohnehin zum Scheitern verurteilten Eingabe erwies er sich einen Bärendienst: Er machte die Gesundheitsbürokraten erneut auf sich aufmerksam. In vorsichtiger Anlehnung an das Wunstorfer Gutachten bezeichnete ihn Amtsarzt Scheulen als einen „wahrscheinlich“ schizoiden Psychopathen. Die Diagnose Schizophrenie lasse sich derzeit nicht mit Sicherheit stellen. Sie hätte eine Zwangssterilisierung Putzkis aufgrund des Erbgesundheitsgesetzes nach sich gezogen. Scheulen, ansonsten ein Verfechter der harten Linie12, war sich des Falles nicht sicher und schob ihn auf die lange Bank. Er ordnete Putzkis weitere Beobachtung durch die psychiatrische Außenfürsorge an. In Anspielung auf seine körperlichen Leiden vermerkte er, ein Antrag auf „Unfruchtbarmachung“ sei zur Zeit nicht erforderlich, da keine „Fortpflanzungsgefahr“ bestehe.
Da eine Verordnung des Reichsinnenministeriums zur Durchführung des Erbgesundheitsgesetzes vom Januar 1942 zudem eine Sterilisierung nur in dringenden Fällen vorsah – die Kriegsbelastungen erforderten andere Prioritäten –, blieb Ernst Putzki zunächst unbehelligt. Die Wächter über die Rassenreinheit aber schoben den Fall nur auf. In seiner Hagener Akte vermerkten sie: „Wiedervorlage nach Kriegsschluß“. Höchstwahrscheinlich hätte er die Nazi-Diktatur überlebt, wäre er nicht durch regimefeindliche Äußerungen aufgefallen.
Ernst Putzki war Mitglied der protestantischen Gemeinschaft „Eben-Ezer“, einem Bibel-, Gebets- und Gesprächskreis, der sich regelmäßig in angemieteten Räumen in der Minervastraße 33 traf. Er war organisatorisch und finanziell unabhängig, gleichwohl eng mit der Paulusgemeinde in Wehringhausen verbunden. An den Zusammenkünften nahmen neben Vikaren der Pauluskirche auch „Brüder“ des „Johanneum“ aus Barmen teil, einer noch heute existierenden Evangelistenschule, die sich 1934 von den antisemitisch und staatstreuen Deutschen Christen distanziert hatte13 – ein Hinweis darauf, dass man bei „Eben-Ezer“ den Machthabern kritisch bis ablehnend gegenüberstand. Die Gemeinschaft traf sich zeitweilig im Paulus-Gemeindehaus in der Borsigstraße, zuletzt in den 1980er-Jahren.14
Ernst Putzki trug seine Gesinnung nach außen. Wie er später selbst berichtete, habe er ganz öffentlich in Geschäften und beim Frisör Reden gegen Hitler gehalten. Putzki stellte „staatsgefährdende“ Handzettel her und heftete sie an Hauswände, bis er schließlich denunziert wurde. In einem Brief an Schwester und Schwager erklärte er seine Beweggründe. Er habe als „Christ der Tat“ für die Glaubensfreiheit eintreten wollen.
Am 10. Dezember 1942 drangen mehrere Männer, darunter Erich Klein, der Wehringhauser Ortgruppenleiter der NSDAP, in die Parterrewohnung in der Franklinstraße ein.15Sie fielen über den ahnungs- und hilflosen Ernst Putzki her, als er gerade ein Bad nehmen wollte und entblößt dastand. Mit seinen eigenen Krücken schlug man ihn auf den Rücken und ins Gesicht. Das erklärte Mutter Maria nach dem Krieg im Ermittlungsverfahren gegen Klein – eine Version, die ihre Nachbarin 1947 bestätigte: Sie sei ebenfalls in der Wohnung gewesen,habe diese aber verlassen müssen. Im Treppenhaus habe sie dann das weitere Geschehen verfolgen können. Die Augenzeugin gab zu Protokoll:
„Mutter Putzky (!) weinte bitterlich, als ihr Sohn Ernst unter rohen Schlägen durch den Hausflur ins Auto geschleift wurde. Dieses jämmerliche Weinen veranlaßte Ernst Putzky, sich an derHaustür noch einmal umzudrehen und seiner Mutter beruhigende Worte zuzurufen. Er sagte wörtlich: ‚Mutter weine nicht, ich bin morgen wieder bei dir, ich habe ja nichts Böses getan.‘ Da gab Klein den Auftrag, ihn wieder zu schlagen. Und der die Schläge Ausführende sagte wörtlich zu Ernst Putzky: ‚Du Schwein kommst nie wieder.‘“
Putzki wurde in das Polizeigefängnis in die Prentzelstraße gebracht. Er habe, so heißt es im Polizeibericht, durch seine Aktivitäten große Beunruhigung in der Bevölkerung hervorgerufen. Es sei bekannt, dass er längere Zeit in der Irrenanstalt Wunstorf verbracht habe. Er betrachte seine Invalidenrente und den monatlichen Wohlfahrtszuschuss als ungenügend.
Daher habe er staatsfeindliche Briefe und Zettel verteilt, auch um sich interessant zu machen. Abschließend wird festgestellt: „Die verbreiteten Schriftstücke haben religiösen Inhalt und strotzen von Beschimpfungen des Führers. Hierdurch ist bewiesen, dass Putzki geisteskrank ist und eine große Gefahr für die Oeffentlichkeit bildet. Dieser Umstand macht die Ueberfuehrung des P. in eine Nervenheilanstalt dringend erforderlich.“16
Mit dem Gestapo-Bericht war Putzkis Schicksal besiegelt und das „ärztliche Gutachten“ von Medizinalrätin Dr. Quens vorgegeben. In ihrem dürftigen psychiatrischen Befund erklärte sie, der Untersuchte sei über Ort, Zeit und Person gut unterrichtet. Er äußere paranoide Wahnideen und sei nicht korrigierbar. Der Gestapo-Forderung nachkommend, stufte sie Ernst Putzki als geisteskrank und „anstaltspflegebedürftig“ ein.17Am 6. Januar 1943 wurde Putzki vom Polizeigefängnis in die Provinzialheilanstalt Warstein verlegt. Dort verfasste er ein Gedicht, in dem er sarkastisch, selbstironisch und sprachlich gekonnt seinen Leidensweg verarbeitete.
„1. Es wurd‘ im schönen Sauerland schon manches Lied gesungen, doch neulich gabs ‘ne Melodie wie sie noch nie geklungen.
2. Da wohnt am Hagener Städtesrand am Wehringhauser Berg ein krummer, kleiner, lahmer Mann nicht größer wie ein Zwerg.
3. Der sang ein wunderbares Lied das hörte die SA und seine Sänge hat er weg noch eh er sichs versah.
4. Die Autos von der Polizei die sind sehr schnell in Hagen Und husch, husch, hast du nicht gesehen, war er schon drinn im Wagen.
5. 4 Wochen bei der Polizei kam er danach in Pflege, so geht das Schicksal unverhofft ganz eigenart‘ge Wege.
6. Als man die Komposition des Kerlchens dann gelesen, da schickt man ihn nach Warstein hin da soll er jetzt genesen.
7. Da sitzt er nun und freut sich sehr, weil er noch ist am Leben denn wenn er nicht Ernst Putzki wär‘ was hätt‘ das sonst gegeben?!“
Putzki verkannte den Ernst der Lage. In seinen Briefen nach Hagen zeigte er sich von seiner baldigen Heimkehr überzeugt. Nicht alle erreichten ihre Adressaten. Vor allem jene mit regimekritischen Inhalten fielen der Zensur zum Opfer. Ohnehin konnten die Insassen nur eingeschränkt Kontakt zur Außenwelt halten. Wie er seiner Mutter mitteilte, dürfe er lediglich einmal im Monat schreiben, und auch nur um Post zu beantworten. Alles hier klage über Mangel an Schreibpapier und Schreibverbote.
In der Wehringhauser Wohnung hatte sich Putzki, in seiner Bewegungsfreiheit stark eingeschränkt, kreativ betätigen können. In Warstein war ihm dies verwehrt. Bereits wenige Tage nach seiner Einlieferung schrieb er zweimal hilfesuchend nach Hagen: Da ihm Basteln nicht möglich sei, wolle er im Malen und Schreiben Zerstreuung suchen. Dazu benötige er u.a. Papier, Bleistift, Farbkasten und Pinsel. Er warte auf die „gebratenen Tauben aus der Schlaraffenlanderzählung“.
Auch diese beiden Schreiben wurden zurückgehalten. Gleiches galt für den Brief, den er am 25.2.1943 an „Mutter, Lisbeth und die Kinder“ schrieb. Er habe in den sieben Monaten seines Aufenthaltes gerade mal ein Buch mit Interesse gelesen. Es gebe hier keine für ihn geeigneten Bücher. Die Mutter möge bei ihrem nächsten Besuch u.a. eine Bibel mitbringen, außerdem Esswaren. Tatsächlich kam Maria Putzki am 10. März 1943 nach Warstein. An diesem Tag sah sie ihren Sohn vermutlich zum letzten Mal.
Wiederholt bat Putzki um Zusendung von Lebensmitteln. Er müsse hier sehr mager leben, und eine entsprechende Hilfe sei dringend erforderlich. Die Wochenrationen an Fleisch und Fett könne man in Milligramm angeben. Für die fast sieben Monate seiner WarsteinerZeit sind fünf Päckchen von Freunden und Verwandten vermerkt. Darin enthalten: Mal- und Schreibutensilien, Illustrierte und einige wenige Lebensmittel, die sich vor allem seine Mutter vom Munde abgespart hatte. „Noch schwelge ich im Genusse des Kuchens!!!“ Mit diesen überschwänglichen Worten bedankte er sich bei Verwandten für die Unterstützung. Sie lassen das Ausmaß der Entbehrungen erahnen, unter denen die Heimbewohner zu leiden hatten.Zu „unnützen Essern“ abgestempelt, wurden ihre Lebensmittelrationen mit zunehmender Kriegsdauer weiter gekürzt. Ende Juli 1943 wog Putzki 43 kg.
Seinen Galgenhumor behielt er dennoch. „Bei Sonnenschein im Pflegeheim!“ So begannen die Zeilen, die er an Paula und Rudi Wieck nach Altenhagen schrieb. An anderer Stelle heißt es: „Hallo, hallo hier ist der Landessender E. P. [...] Dein Brüderchen, der so gefährliche Witze reißt, sendet Dir u. Familie viele Grüße.“
Besonders amüsant ist der Anfang eines Briefes, den er am 11.1.1943 an Herrn Braun schrieb.18. Gleich nach der Anrede bemerkte er scherzhaft, rot oder grün sei ihm eigentlich lieber. Braun könne er nicht mehr hören – eine Anspielung auf die politische Symbolfarbe der Nazis. Nicht minder spöttisch waren einige seiner Schlussbemerkungen. Einen Brief beendete er mit den Worten: „Ernst Putzki Hagen i/W. Franklinstr. 21, zur Zeit in Bad Warstein Luftkurort. Sieg Heil!!!“ Geradezu subversiv sind seine trefflich gelungenen Zeichnungen. Sie zeugen von künstlerischem Talent und belegen einmal mehr seine antinationalsozialistische Grundhaltung. Auf einem Bild thematisiert er Hitlers Angst, vergiftet zu werden – eine Karikatur mit womöglich realem Hintergrund. Vorkosterinnen sollen Hitlers Speisen getestet haben.19
Offensichtlich unterschätzte Putzki seine Feinde und deren Helfershelfer – trotz der bitteren Erfahrungen, die er mit ihnen gemacht hatte. Unverhohlen brachte er seine verbotenen und gefährlichen Gedanken zu Papier. Darauf weisen auch die Briefe hin, in denen er kein Blatt vor den Mund nahm und die dann in seiner Personalakte verkümmerten, darunter eine undatierte Eingabe an das Hagener Amtsgericht. Er sei von mehreren SA-Angehörigen überfallen und nach vierwöchiger Haft in die „Irrenanstalt“ gebracht worden. Arglos, vielleicht verzweifelt hoffend, bat er die NS- Justizbehörde darum, den Fall zu untersuchen.
Ernst Putzki ergab sich nicht kampflos seinem Schicksal. Als er ausreichend Schreibmaterial beisammen hatte, schilderte er das Unrecht, das man vor allem in der Wunstorfer Klinik an ihm begangen habe. Er wolle aufzeigen, dass er an keiner Krankheit leide. Man habe ihn für geisteskrank erklärt, weil er sein Recht verlangte, und ihn Anbetracht der Gefährlichkeit „seines Persönchens“.
Zuversichtlich sah er den Dingen entgegen. Euphorisch schrieb er am 14.2.1943 an Schwester und Schwager: „Aufgrund dieser Beweise muss man mich hier entlassen und Mama kann jetzt schon das Entlassungsgesuch einreichen!!! Im Sommer bin ich wieder in meinem Element. Auch im Brief an die Verwandten Paula und Rudi zeigte er sich von seiner baldigen Heimkehr überzeugt: „Nach meiner Entlassung [...] bin ich der ruhigste und zufriedenste Mensch im deutschen Lande [...]. Eure Sorge ist, dafür zu sorgen, daß Mama nie alleine ist solange ich noch hier bin.“
Putzki lehnte das Regime aus zutiefst religiösen Gefühlen ab. Für ihn war Hitler ein Feind des Glaubens, der „Antichrist“, der die Welt in den Abgrund führte. Eine Zeichnung macht dies eindrucksvoll deutlich: Bei einer Ansprache zum 1. Mai erliegt Hitler den Einflüsterungen des Bösen. Der hinter ihm stehende Teufel kneift ihm in den Rücken und flüstert ihm zu: „Sag: ‚Die Vorsehung will es so!!!‘“ Damit führte Putzki einen Begriff ad absurdum, der zur Rechtfertigung der NS-Herrschaft eine gewichtige Rolle spielte. Hitler selbst sah sich mit der Vorsehung im Bunde. Übernatürliche, quasi göttliche Fügung habe ihn zum Führer des deutschen Volkes bestimmt und lenke seine Schritte unabänderlich in die richtige Richtung. Putzki warnt vor Hitler, der als Werkzeug des Teufels offensichtlich ungeheuren Einfluss auf die Menschen ausübt. Ironisch setzt er sich zudem mit offiziellen Propagandalügen auseinander.
Putzki erkannte die Gefährlichkeit Hitlers. Rettung könne es nur geben, wenn die Menschen zum Glauben fänden und Buße täten. Bald werde das Volk erkennen, dass Gott „der alleinige und wahre Führer“ sei. Er selbst sei dazu auserwählt, die Menschen wachzurütteln und sie vor dem Verderben zu bewahren.
Ähnlich hatte sich Putzki schon in Wunstorf geäußert. Jetzt in Warstein, nach vierwöchiger Gefängnishaft und erneuter Zwangseinweisung, brach das „Sendungsbewusstsein“ wieder durch. Vergeblich versuchte er Kontakt zu seiner Gemeinde aufzunehmen. Seine Briefe wurden zurückgehalten. Tief enttäuscht und verzweifelt, isoliert von der Gemeinde, suchte er Halt im Glauben. Gott habe ihm die schweren Prüfungen auferlegt, die er bestehen müsse. Wiederholt bezeichnete er sich als „Prophet“ und „Diktator Gottes“. Es sei zwar unglaublich, dass er sich für den „Heiland Gottes“ halte, aber die Zukunft werde hier Aufklärung bringen. Außer ihm habe sich noch keiner gefunden, den man für den „Knecht Gottes“ halten könne. Er sei der, für den er sich ausgebe, schrieb Putzki am 16. Mai 1943 an seine Mutter. Seine Handlungen geschähen aus innerem Zwang heraus. Es sei Gottes Geist, der ihn zu allem getrieben habe. Gott werde durch seinen Abgesandten „den Teufel entlarven, der 10 lange Jahre die Herrschaft im Lande hatte.“ Einem habe sich „Gottes Arm“ offenbaren müssen, ließ er Herrn Braun wissen. „Habe ich früher in der Landwirtschaft Kuh-, Schweine-, Pferde- und Schafställe ausgemistet, so steht mir die Ausmistung des größten [...] Schweinestalles noch bevor!!!“20
Putzki war weitgehend vom Nachrichtenfluss abgeschnitten und auf die schönfärberischen offiziellen Verlautbarungen angewiesen. Dennoch gelangte er zu einer erstaunlich realistischen Einschätzung der schlechter werdenden militärischen Lage – ein weiterer Beleg seines klaren Verstandes. Mit einem Atlas, den er sich hatte schicken lassen, verfolgte er offensichtlich den Kriegsverlauf. In einem zurückgehaltenen Brief an Schwager und Schwester schrieb er am 14.2.43 wortgewandt: „Die deutschen Truppen sind so zersplittert daß die ganze(n) Küstenbefestigungen untätig sind und vom Nordkap bis zur Biskaya sind ungeheure Mengen Kriegsmaterial gebunden die den Fronten nun fehlen. Die Nachschubverbindungen, vor allem im Winter, sind katastrophal zu nennen. Stalingrad war ein Kinnhaken der nicht mehr gut zu machen ist. Die Kaukasusfront war für die Katzen und es macht sich in jeder Weise das Feldherrngenie eines Führers bemerkbar. Meine Äußerung daß dieser Krieg eine Vernichtung zur Einleitung des Weltuntergangs ist, bestätigte Hitler in seiner Rede daß es nun keine Sieger u. Besiegte gebe“.
Mit seiner treffenden Lagebeurteilung, die heute im Geschichtsbuch stehen könnte, schrieb sich Putzki um Kopf und Kragen. Er betrieb „Wehrkraftzersetzung“ – für die Anstaltsleitung ein weiterer Beweis dafür, dass man ihn zu Recht weggesperrt hatte. Die Entlassung, an die er sich nach wie vor klammerte und die seine Mutter weiterhin betrieb, war damit unmöglich geworden.
Zunehmend stand die Wehrmacht mit dem Rücken zur Wand. Am 16. Mai 1943 schrieb er an seine Mutter: „Meine erste Prophezeiung vom Herbst v. J. ist nun in Erfüllung gegangen: Die Truppen des Antichristen sind aus Afrika verjagt worden, wo sie so großmäulig die Jägersein wollten! … Gott will nun das Strafgericht, das er kommen ließ, zu Ende führen.“ Putzki wertete den Zusammenbruch, den er früh voraussah, als Bestätigung biblischer Untergangsszenarien und als Voraussetzung zur Errichtung einer göttlichen Ordnung. Das Volk werde erkennen, dass Gott „der alleinige und wahre Führer“ sei, und das vielgesprochene Gebet „Dein Reich komme“ werde sich in Kürze erfüllen.
Längst hatte der von den Nazis entfesselte Krieg die „Heimatfront“ erreicht. Die Krankenhaus-betten reichten kaum mehr aus, um die wachsende Zahl von Zivilverletzten und verwundeten Soldaten aufzunehmen. Deshalb funktionierte man die Heil- und Pflegeanstalten, vor allem wenn sie sich in weniger „luftkriegsgefährdeten“ Gebieten befanden, zu Ausweichkrankenhäusern und Lazaretten um. Die Patienten, ohnehin als wertlos betrachtet, hatten Platz zu machen. Nach und nach wurde auch die Klinik Warstein geräumt. Bis 1943 wurden 1575 Menschen „verlegt“, was für fast alle den sicheren Tod bedeutete.21
Der größte Massentransport erfolgte am 26. Juli 1943. Unter den mehr als 500 Personen, die an diesem Tag von Warstein in die Tötungsanstalt Hadamar und in die berüchtigte„Heilanstalt“ Weilmünster deportiert wurden, befand sich Ernst Putzki. Eine begleitende Krankenschwester sprach von einer „grausigen Fahrt“, die sie nie mehr vergessen könne. Der Trauerzug mit den Todgeweihten habe sich um 8 Uhr morgens in Bewegung gesetzt. „So wundervoll die Fahrt an der Lahn herunter war, so grausam wurde uns zumute, je näher wir der Höllenstation kamen. [...] Da (in Hadamar) fiel mein Auge auf zwei schmutzige Wagen, auf denen etwas Stroh lag [...]. So wurden die armen, schwachen Leute wie Vieh auf den Wagen geworfen, an Händen und Füßen geschleift und dann aufeinander geworfen. Nach kurzer halber Stunde fuhr der Zug weiter auf Weilmünster zu. [...] Hier sah man ja nichts, aber man hörte das Schreien der Armen. Es kam ein Pfleger zu mir und sagte: ‚Schwester, in Hadamar war es schlimm, aber hier in Weilmünster ist es noch schlimmer.‘“22
In einer Zeichnung, die womöglich eigene Erlebnisse widerspiegelt, thematisierte Putzki die„Viehtransporte“. Sie zeigt eine hilflos blökende, angeblich kranke Hammelherde, die per Eisenbahn zur Schlachtbank gefahren wird. Ein Uniformierter begründet die Maßnahme gegenüber einem Außenstehenden, der sich mehr für die Lokomotive als für die Leiden der dargestellten Geschöpfe interessiert.
Putzki kam nach Weilmünster, wo besonders katastrophale Lebensbedingungen herrschten. Die Mehrheit des Personals waren „alte Kämpfer“ der NS-Bewegung, die Ärzte durchweg Parteimitglieder. Die Todesrate lag hier zeitweilig bei bis zu 50 Prozent, höher als die Sterblichkeit im Vergleich zu ähnlichen „Einrichtungen“ im Reich. Tausende starben durch planmäßiges Aushungern.23
In dem eingangs erwähnten Brief an seine Mutter vom 3.9.1943 schilderte Putzki die barbarischen Zustände. Von den Warsteinern, die mit ihm in „diese Siechenstation“ kamen, seien nur noch wenige am Leben. Man habe sie nicht wegen der Flieger verlegt, sondern um sie „in dieser wenig bevölkerten Gegend unauffällig verhungern“ zu lassen. Die Todeskandidaten würden mit Heißhunger über verfaultesund stinkendes „Zeug“ herfallen. Keiner wisse, wer der Nächste ist. „Wir essen aus kaputtem Essgeschirr und sind in dünnen Lumpen gekleidet [...] Vor 5 Wochen haben wir zuletzt gebadet und ob wir in diesem Jahr noch baden, wissen wir nicht.“ Obwohl Maria Putzki diesen Brief nie erhielt, ahnte sie Schlimmes. Am 10.9.1943 schrieb sie an die Direktion der „Nervenheil-Anstalt Weilmünster“ und bat, Ernst nach Hause zu holen. Das Gesuch wurde kurz und bündig abgelehnt. Bei ihrem Sohn habe sich keine Besserung eingestellt. Nach wie vor sei er „mit Grössenideen angefüllt“.
Maria Putzki ließ nicht locker. Am 30. Januar 1944 wandte sie sich an den Chefarzt. Sie habe verschiedentlich geschrieben, aber keine Antwort erhalten. „Habe nun die Bitte, mir doch einmal über meinen Sohn Auskunft geben zu wollen weshalb er nicht schreibt u. wie sein gesundheitlicher Zustand ist.“ Erneut erhielt Maria Putzki eine lapidare Antwort. Im Zustand ihres Sohnes sei keine Änderung eingetreten. Im Übrigen habe man nicht alle seine Briefe „wegen ihres kranken Inhaltes“ abschicken können. Dazu zählte auch der Brief, den Putzki am 4.12.1943 an die „Liebe Mutter, Paula und Rudi“ schrieb. Er ist ein weiterer Beweis seines klaren, eigenständigen Denkens. Im Gegensatz zur Propaganda betrachtete er die alliierten Bombardierungen nicht als „Terrorangriffe“, sondern nüchtern als Konsequenz des von den Nazis angezettelten Krieges, der nun auf die Verursacher zurückfiel. Er betrachtete die Flugzeuge aus der Sicht der Opfer als Vorboten der Befreiung.
Putzki schrieb: „Hier überfliegen uns Tag und Nacht ganze Schwärme von Flugzeugen, die nun die Vergeltung für die deutschen Couventryrungen24 englischer Städte bringen.Ich empfinde aber kein Mitgefühl mit den Menschen, die ja auch mit uns kein Erbarmen kennen. Im Gegenteil, ich begrüße die Flieger mit einem Gefühl der Freundschaft. Es sind die Friedensbringer und unsere Erlöser aus der Hölle Weilmünster.“ Putzki, offensichtlich mit unbändigem Überlebenswillen ausgestattet, entkam der „Hölle Weilmünster“, nicht aber dem Terrorregime. Als ein Großteil der Anstalt zum Lazarett für die Waffen-SS umfunktioniert wurde, hatte auch er den Platz zu räumen. Am 29. September 1944 erfolgte seine „Verlegung“ nach Hadamar. In dieser Tötungsanstalt wurden zwischen 1941 und 1945 etwa 14.500 psychisch erkrankte und behinderte Menschen ermordet, bis zum Sommer 1942 in der Gaskammer, danach durch überdosierte Medikamente, Unterversorgungund Nahrungsentzug.25
Anfang Oktober 1944 erhielt Maria Putzki aus Hadamar die Nachricht, dass ihr Sohn Ernst in die hiesige Anstalt verlegt worden sei. Besuche könnten nur in besonders dringenden Fällen gestattet werden und bedürften der besonderen Genehmigung der Anstaltsleitung. Noch im selben Monat stellte die Mutter einen entsprechenden Antrag. Sie habe seit geraumer Zeit nichts von ihrem Sohn gehört und verspüre den dringenden Wunsch, ihn zu sehen. Einmal mehr wurde ihr der Besuch verwehrt.
Mit Datum vom 8.1.1945 stellte Hadamar dann eine Genehmigung für Maria Putzki aus. Darin hieß es: „Ihr Sohn Ernst ist an einer Lungenentzündung mit hohem Fieber schwer erkrankt. Da Herzschwäche besteht, ist Lebensgefahr nicht ausgeschlossen. Besuch ist gestattet.“ Dieser Brief zielte jedoch allein auf die Täuschung der Mutter ab. Er entsprach der gängigen Praxis, die Ermordung von Patienten zu verschleiern und die Hinterbliebenen aufden Tod der Angehörigen vorzubereiten. Die Besuchserlaubnis diente ebenfalls der routinemäßigen Irreführung. Bevor sie genutzt werden konnte, waren die Patienten verstorben. Auch Ernst Putzki starb unmittelbar nach Versendung der Nachricht, bevor ihn die Mutter ein letztes Mal sehen konnte. Fünf kurze Einträge in Putzkis Patientenakte „dokumentieren“ den angeblichen Krankheitsverlauf. Offensichtlich wurden sie nach seinem Tod rückwirkend in einem Zug geschrieben. Sie sind ebenso fiktiv wie die angegebene Todesursache „Pneumonie“ (Lungenentzündung) und belegen einmal mehr die in Hadamar verübten Verbrechen.26
In dürren Worten wurde Maria Putzki über den Tod des Sohnes informiert. Die Beerdigung,so teilte man ihr mit, werde in aller Stille auf dem Anstaltsfriedhof stattfinden. Wochen späterwurden ihr wunschgemäß die wenigen Habseligkeiten ihres Sohnes zugeschickt, verbunden mit der Bitte, für entstandene Auslagen 3 Reichsmark zu überweisen.
Offiziell starb Ernst Putzki am 9. Januar 1945. Längst war der Krieg verloren, der Zusammenbruch stand unmittelbar bevor. Putzki wurde Opfer von Ärzten, die sich bis zuletzt unbeirrt in den Dienst des Regimes stellten. Kaum einer der Täter, Nutznießer und Mitläufer wurde später zur Rechenschaft gezogen. In der Regel setzten sie in der Bundesrepublik ihre Karrieren fort und verzehrten ihre Pensionen, während die Angehörigen der Opfer vergeblich um Anerkennung und Entschädigung kämpften – eine bittere Erfahrung, die auch Maria Putzki machen musste. Auch Dr. Scheulen, NSDAP-Mitglied und ab 1938 Leiter des Hagener Gesundheitsamtes, später von den Nazis wegen seiner „Verdienste“ bei der Umsetzung des Erbgesundheitsgesetzes zum Obermedizinalrat befördert, konnte seine Position behalten. Scheulen blieb bis zu seiner Pensionierung im Jahre1960 Leiter des Hagener Gesundheitsamtes.
Im April 1948 schrieb Maria Putzki die „Heilanstalt Hadamar“ an. Sie bat um die Zusendung der Sterbeurkunde ihres Sohnes, um Rentenansprüche für Hinterbliebene von politisch verfolgten NS-Opfern geltend zu machen. Zur Prüfung des Sachverhaltes setzte sich auch das Büro des NRW-Sozialministeriums mit Hadamar in Verbindung und forderte Ernst Putzkis Krankenbericht an. Die Behörde wollte vor allem wissen, ob die Anstaltseinweisung seinerzeit aus politischenGründen erfolgt sei, wer sie angeordnet habe „und an welchen Folgen P. verstorben ist“. Die Stellungnahme, die der stellvertretende Direktor der Anstalt Hadamar am 21. Oktober1948 verfasste, lässt jegliche Differenzierung vermissen. Unkritisch knüpft sie an das an, was in Putzkis Patientenakte niedergeschrieben wurde. Putzkis Einweisung in die Heilanstalt Warstein sei auf Betreiben der Gestapo erfolgt, weil „er gegen die damalige Regierung ungerechtfertigte und nach ihrem Inhalt auf Wahnvorstellungen beruhende Beschuldigungen erhob, Unruhe in die Bevölkerung brachte.“ Es könne nach den damaligen Vorgängen und aufgrund der gesamten Aktenlage kein Zweifel bestehen, dass bei ihm eine Geisteskrankheit vorgelegen habe, die die Unterbringung in einer geschlossenen Anstalt notwendig machte.Er sei dann in Hadamar am 9.1.1945 verstorben. Als Todesursache finde sich „in der Krankengeschichte eine Lungenentzündung angegeben.“27
Das „Gutachten“ ignorierte das an Putzki begangene Unrecht und sprach die beteiligten NS-Ärzte und Gesundheitsbürokraten von jeglicher Verantwortung frei. Letztlich rechtfertigte es die Schandtaten, die an Ernst Putzki verübt wurden. Damit war auch die Ablehnung der Hinterbliebenenrente für seine Mutter vorgegeben. Auch in der Bundesrepublik wurden Euthanasie und Zwangssterilisationen jahrzehntelang nicht als „typisches NS-Unrecht“ betrachtet. Vergeblich hofften Betroffene und Angehörige auf Rehabilitierung und Wiedergutmachung. Die an Behinderten, psychisch Kranken und „Minderwertigen“ verübten Verbrechen wurden verdrängt. Erst seit den 1980-er Jahren rückt ihr Schicksal verstärkt ins öffentliche Bewusstsein. Auch Ernst Putzki war in Vergessenheit geraten. Dann wurde Claudia Schaaf, Mitarbeiterin der Gedenkstätte Hadamar, auf ihn aufmerksam. Am Beispiel seiner Patientenakte untersuchte sie das Schicksal von Menschen, die während des NS-Regimes aus politischen Gründen oder als sozial Unangepasste, als „Sonderlinge“ oder „Querulanten“ mit „medizinischen“ Diagnosen in psychiatrische Anstalten eingewiesen und dort ermordet wurden.28
In einem 1995 erschienenen Buch zur Hagener Geschichte wurde kurz auf Putzki hingewiesen.29Ansonsten blieb er in der Stadt weithin unbekannt. Erst in jüngster Zeit interessiert man sich verstärkt für ihn. 2019 findet er in einem Heft über vergessene Hagener Euthanasie-Opfer besondere Erwähnung.30Monate zuvor war vor seinem Wohnhaus in der Franklinstraße 21 ein Stolperstein mit seinem Namen verlegt worden. Er erinnert an einen außergewöhnlichen, eigensinnigen Menschen mit ausgeprägtem Gerechtigkeitssinn, der sich das Denken nicht verbieten ließ, der Hitler nicht zuletzt aus religiösen Gründen offen ablehnte und dafür mit dem Leben bezahlte.
Dieser Text erschien zuerst als:
Rainer Stöcker und Pablo Arias Meneses, »Unbequem – weggesperrt – ermordet. Das Schicksal des Ernst Putzki«, in: Hagener Heimatverein (Hg.), HagenBuch 2021. Impulse zur Stadt-, Heimat- und Kunstgeschichte, Hagen 2020.
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