Paul Lemke
Landwirtschaftshelfer aus Berlin
geb.
in
Berlin
gest. in
?
Landwirtschaftshelfer aus Berlin
geb.
in
Berlin
gest. in
?
Paul, der noch zwei Halbgeschwister hatte, kam im Dezember 1937 in den Wittenauer Heilstätten nicht zum ersten Mal in ein Heim.
Seine Mutter schrieb 1941 an die Anstalt die Vorgeschichte ihres Sohnes, die sich im ärztlichen Bericht dann folgendermaßen liest:
»Der Grund der Einweisung in das hiesige Erziehungsheim waren seiner Zeit gelegentliche Erziehungsschwierigkeiten, die u.a. in Mutwilligkeiten und Gewalttätigkeiten gegenüber der kleinen Schwester und im Weglaufen bestanden. Der Junge befand sich wegen Sprachfehlers und wegen seines abartigen Verhaltens in einem Sanatorium (Dr. Isselmann in Nordhausen) bis zum siebten Lebensjahr. Er wurde in die Hilfsschule eingeschult. Dort versagte er … In der Familie angeblich keine Nerven- und Geisteskrankheiten. … Der Vater des Paul war von Beruf Schneider, hat sich erhängt … Die Mutter will bis zur ersten Volksschulklasse gekommen sein. Sie hatte eine Hauswartstellung, ist z. Zt. nicht berufstätig. Name Anna Lemke. Stiefvater heißt Paul Lemke. Die Mutter macht einen beschränkten Eindruck, gerät beim Vorlegen einfacher Rechenaufgaben und Unterschiedsfragen völlig außer Fassung …«
Im Bericht des Jugendamtes Schöneberg, das den Sohn 1931 für einen Monat auf die Kinderfachabteilung der Charité zur Beobachtung eingewiesen hatte, heißt es dagegen zur Familiensituation:
»Das Eheleben erscheint nicht unharmonisch, jedoch durch wiederholten Krankenhausaufenthalt der Eheleute und häufige Arbeitslosigkeit zeitweilig getrübt. Frau Lemke trägt trotz ihrer zarten Gesundheit durch Fabrikarbeit nach Möglichkeit zum Lebensunterhalt der Familie bei. Der Stiefvater ist ebenfalls Arbeiter. Mutter und Stiefvater sind um eine gute Erziehung der Kinder bemüht und erziehlichen Fragen durchaus zugängig … Der Stiefvater hängt besonders an Paul, den er seinem eigenen, ebenfalls schwer zu erziehenden Sohn Bruno vorzieht.«
Das Schöneberger Jugendamt hatte Paul in die Charité eingewiesen, um genauer feststellen zu können, »welche Maßnahmen im Interesse einer erzieherischen Förderung Pauls erforderlich sind.« Denn in dem Sonderkindergarten im Pestalozzi-Fröbel-Haus machte er erhebliche Schwierigkeiten mit »schwankender Gemütshaltung und Unfähigkeit zur Gruppenbeschäftigung«. Sowohl aus dem Kindergarten wie aus der Charité existieren ausführliche und ernsthafte pädagogische Berichte. Die Charité hatte ihm ein Attest ausgestellt, in dem es heißt:
»Es handelt sich um einen etwas schwachsinnigen Jungen, der durch seine Überlebhaftigkeit und Übererregbarkeit Erziehungsschwierigkeiten macht. Diagnostisch kann nicht mit Bestimmtheit gesagt werden, wieweit der ganze Defekt organischer Genese (frühkindliche Encephalitis) ist, in welche einige Auffälligkeiten des Nervensystems weisen. Es wird empfohlen, Paul Lemke zunächst auf die Kinderabteilung der Potsdamerstrasse zu nehmen und für später die Verbringung in ein pädagogisches Milieu … ins Auge zu fassen.«
In der Anstalt Wittenau besucht er die Hilfsschule. Später sagt er, dass er in Nordhausen erst einmal sprechen lernen musste und deswegen bereits acht Jahre alt war, als er dort in die erste Klasse kam. Seine Zeugnisse in Wittenau, das letzte ist aus dem Winterhalbjahr 1940/41, weisen bei ›Schreiben‹ Noten zwischen 1 und 2 nach und beim Zeichnen zwischen 2 und 3; in den übrigen Fächern schwanken die Noten zwischen 3 und 5 und die Bemerkungen reichen von »vorlaut sonst willig«, »geistig wenig aktiv«, über »furchtsam«, »empfindlich und dann hemmungslos« bis zu »freundlich«, »friedfertig«, »gutmütig«.
Offensichtlich hat Paul nebenbei auch in den Werkstätten von Wittenau gearbeitet; denn von dort gibt es eine Beurteilung aus der Schneiderei vom April 1940: »Ist willig aber unbeständig, zankt sich gern mit Kameraden herum. Seine Kleidung hält er in Ordnung.« Und über seine Beteiligung bei den Hausarbeiten heißt es im Dezember 1940:
»Seine Wesensart ist zeitweise eine überaus lebhafte; lautes Singen oder Herumhantieren mit Besen und Schrubber und Eimer macht ihm großen Spaß, je mehr Krach dadurch entsteht. Als Schrankjunge ist er äußerst eigen, gibt auf Sauberkeit der Betten acht und ist bedacht darauf, daß Kleidung und Wäschestücke in den Schränken restlos vorhanden sind. Auf sein Äußeres legt er besonderen Wert, in Bezug auf Haartracht und Sauberkeit der Kleidung. Trifft der Erzieher eine Anordnung, die ihm nicht paßt, ist er nur schwer zu bewegen, sie auszuführen, verschwindet dann spurlos und legt hier gerade große Eigensinnigkeit an den Tag. Hilft zeitweise den Frauen bei Hausreinigungen, welche mit ihm zufrieden sind. Bei Außenarbeiten ist er interessiert bei der Sache. Kameradschaftlich leidlich verträglich.«
In Wittenau war man wohl der Meinung, dass Paul in der Schule keine weiteren Fortschritte machen würde. Jedenfalls hieß es im August 1941 in einem Bericht, dass er über die Mittelstufe nicht hinausgekommen sei. Man suchte für ihn eine Pflegestelle.
An dieser Stelle drohte die gesellschaftliche Wirklichkeit in Pauls bisheriges Leben einzubrechen. Die Anstalt Wittenau hatte ihn wegen »angeborenen Schwachsinns« am 11. Januar 1938 an das Gesundheitsamt von Schöneberg gemeldet – wie das »Erbgesundheitsgesetz« es vorschrieb. Dieses fragte nach, als Paul im Jahr 1941 zu einer Pflegefamilie kommen sollte, ob er sterilisiert worden sei. Aber er hatte Glück.
Der Arzt im Erziehungsheim der Wittenauer- Heilstätten schrieb an den Amtsarzt, eine Nachprüfung der Meldung hätte ergeben, »daß die Entscheidung über die Frage der Unfruchtbarmachung zur Zeit noch nicht möglich ist, da die psychische Entwicklung des Jungen offenbar noch nicht abgeschlossen ist. Körperlicher Habitus und Denkweise tragen die Zeichen eines ausgesprochenen Infantilismus. Der äußere Eindruck entspricht etwa einem Alter von 11 bis 12 Jahren … Ich halte eine Entlassung des Jungen aus der Anstalt für unbedenklich. Eine Nachuntersuchung des Entwicklungszustandes und der Intelligenz in etwa 1–2 Jahren erscheint erforderlich.«
Paul kam in eine Pflegefamilie und zwar nach Vogelsang/Kreis Guben zum Bauern Krafft. Dort hielt er es eine Weile aus, dann lief er davon zu seiner Mutter. Als diese mit ihm zusammen im Juni 1943 mangels eigener Unterbringungsmöglichkeiten wieder nach Wittenau ging, berichtete er dort, wie es ihm in der Pflegefamilie ergangen war:
»Dort habe er alle landwirtschaftlichen Arbeiten gemacht. Dort sei er anderthalb Jahre gewesen. Dann sei er ausgerückt und sei zu seinen Eltern gegangen, weil die Leute ihn so schlecht behandelt haben. Er habe oft Prügel bekommen. Der Streit sei losgegangen, als seine Mutter ihn einmal bei den Bauern habe besuchen wollen. Die Bauersleute aber seien dagegen gewesen. Die Leute hätten aber seine Papiere nicht rausgerückt und daher habe seine Mutter ihn nicht behalten können. Das sei gestern am Donnerstag gewesen und seine Mutter habe ihn dann gleich hierher zur Nervenklinik gebracht. Von dort sei er sofort hierher überwiesen worden. Er habe noch einen Bruder, der im Felde sei und eine sechsjährige Schwester, die zu Hause sei. Sein Vater sei auch im Felde. Er wolle nur eine andere Stelle haben, auf der man ihn in Ruhe lasse … Er bitte, in die Kolonne gehen zu können. Dann wolle er auch dort bald wieder in eine Pflegestelle, aber eine bessere als bisher.«
Der Arzt, der das am 2. Juli 1943 aufgenommen hat, beschreibt ihn als »ruhig, geordnet, in allen Qualitäten orientiert. Gibt bereitwillig und freundlich Auskunft.« Paul wird in der Feldkolonne beschäftigt und am 3. August nach Wuhlgarten zur Beschäftigung entlassen.
Auf den letzten Seiten der Krankenakte, im August 1943, schreibt der Arzt oder Pfleger in Wuhlgarten, die Mutter von Paul habe ihm gesagt, ihrem Sohn gefalle es in Wuhlgarten sehr gut, sowohl bezüglich der Unterbringung wie bezüglich der Verpflegung. Und da die körperlich-geistige Entwicklung des Patienten noch nicht abgeschlossen ist, ist es noch nicht »mit hinreichender Sicherheit möglich, über die Frage der etwaigen Unfruchtbarmachung zu einem sicheren Urteile zu gelangen.« Im September 1943 wollten die Eltern ihren Sohn wieder zu sich nehmen, mussten ihren Antrag aber zurückziehen, da sie ihn nicht bei sich unterbringen konnten.
Am Ende der Akte heißt es, ohne Angabe des Datums, zusammenfassend für Pauls letzte Tage in Wuhlgarten: »In Schumacherei beschäftigt, nicht regelmässig, trieb sich ca. 2 Tage lang und allein herum – ging spazieren – sammelte Strippen und Nägel usw. … arbeitete dann beim Pantoffelmachen brauchbar. Keine wesentlichen Ereignisse in der vergangenen Zeit.«
Am 7. Mai 1945 holte ihn seine Mutter ab. Er war offiziell entlassen. Paul hatte Glück gehabt.
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