Zehn Jahre virtueller Gedenk- und Informationsort Gedenkort-T4.eu
Ein Rückblick von Sigrid Falkenstein
Als ich 2010 von dem Projekt eines virtuellen Mahnmals zum Thema NS-„Euthanasie“ hörte, war ich begeistert, denn im Gegensatz zu heute gab es damals nur wenige - meist von Privatpersonen betreute - Internetpräsenzen zum Thema. Ein professionell betriebenes zentrales Informations- und Gedenkportal war überfällig, als der virtuelle Gedenk- und Informationsort Gedenkort-T4.eu vor zehn Jahren freigeschaltet wurde.
Einen Tag später, am 10. November 2011, kam der Bundestagsbeschluss für den »Erinnerungsort für die Opfer der NS-›Euthanasie‹-Morde« an der Tiergartenstraße 4 zustande. Zufall? Nein! Es gab von Beginn an eine enge Verbindung zwischen Gedenkort-T4.eu und dem realen Erinnerungsort an der Tiergartenstraße 4, nicht zuletzt durch Personen, die beiden Projekten verbunden waren. Gedenkort-T4.eu und der dazugehörige Blog, der bereits seit 2010 existierte, waren Teil und gleichzeitig Motor einer bemerkenswerten Entwicklung. Nach Jahren des Schweigens und Verdrängens in Bezug auf die „Euthanasie“-Verbrechen deutete sich ein Wandel in der deutschen Erinnerungskultur an. Die „Euthanasie“-Verbrechen rückten immer stärker ins öffentliche und politische Bewusstsein.
Dazu hat Gedenkort-T4.eu in vielerlei Hinsicht beigetragen.
Auf der Website werden nicht nur geschichtliche Fakten zusammengetragen, sondern auch Brücken zu Themen der Gegenwart und der Zukunft geschlagen. Besonders hervorzuheben ist der interaktive und inklusive Ansatz. Hier zwei wichtige heutige Projekte, die mit Gedenkort-T4.eu verbunden sind:
- der bundesweite Theater-Wettbewerb andersartig-gedenken-on-stage zu Biographien der Opfer der NS-"Euthanasie"-Verbrechen
- und der Förderkreis Gedenkort T4, der den Gedenk- und Informationsort Tiergartenstraße 4 für die Opfer der NS - „Euthanasie“ - Morde besser bekanntmachen und zur Erneuerung und Stärkung des bürgerschaftlichen Engagements für diesen Ort beitragen will. Besonders hervorzuheben finde ich das Anliegen von Gedenkort-T4.eu, ein Informations- und Gedenkportal aufzubauen, das die europäische Dimension der NS-„Euthanasie“-Verbrechen aufzeigt und Verbindung zu Interessierten in anderen Ländern Europas aufbaut. In bleibender Erinnerung habe ich das Symposium im November 2010 zum Thema „Euthanasie – Eugenik“ im Rahmen einer „deutsch-polnischen Partnerschaft zur Förderung des Bewusstseins über die Opfer der Eugenik 1933 - 1945“.
Ich bekam dort die Gelegenheit, über „Euthanasie“ im Familiengedächtnis und über das Schicksal meiner Tante Anna Lehnkering zu berichten. Gleichzeitig wurden mir von den polnischen Teilnehmer/innen viele interessante und unbekannte Informationen vermittelt.
Für mich als Angehörige eines „Euthanasie“-Opfers spielte Gedenkort-T4.eu als Anlaufstelle für Familienangehörige von Anfang an eine ganz besondere Rolle. Wesentlicher Bestandteil der Website ist nämlich die Erinnerung an die die Opfer, die durch fast 160 Biografien wachgehalten wird.
In dem Zusammenhang sei gestattet, dass ich nochmal meinen Aufruf an Angehörige aus dem Jahr 2010 zitiere: „An Sie alle richte ich heute diese Rundmail. Zurzeit entsteht mit der Internetplattform www.gedenkort-t4.eu ein virtuelles Mahnmal zum Thema NS-„Euthanasie“. Das Projekt wird im November 2011 freigeschaltet. Ein wichtiger Bestandteil soll die Erinnerung an Einzelschicksale von Opfern der „Euthanasie“-Verbrechen sein. Wir wissen, dass sie keine anonyme Masse waren. Wer – wenn nicht wir als Angehörige - könnte dies glaubwürdiger bezeugen und so dazu beitragen, die Mauern des Schweigens und der Tabuisierung zu durchbrechen, die das Thema NS-„Euthanasie“ jahrzehntelang sowohl in unserer Gesellschaft als auch in unseren Familien umgeben haben?! Auf Gedenkort-t4.de werden Familienangehörige gebeten, über ihre Erfahrungen, ihre Familiengeschichte bzw. die Lebensgeschichte ihrer ermordeten Familienmitglieder zu berichten. Es wäre eine wertvolle Unterstützung, wenn diejenigen von Ihnen, die bereits publiziert haben, eine Kurzversion Ihrer Geschichte zur Verfügung stellen würden. ...“
Ich denke, dass dieser Aufruf nach wie vor gilt. Zehn Jahre Gedenkort-t4.eu – ein Grund zur Freude und Anlass, den am Projekt beteiligten Menschen zu danken. Es gäbe einige Namen zu nennen, aber für mich sind es vor allem drei Menschen, ohne die das Projekt nicht zustande gekommen wäre, beziehungsweise ohne die es nicht das wäre, was es heute ist.
Dank an den Projektleiter Stefan Schenck, der das Projekt vom Beginn an mit unerschütterlichem Engagement und viel Energie begleitet. Dank an den Historiker Robert Parzer, der das Projekt mit Leidenschaft und profundem Wissen redaktionell betreut. Nicht selten habe ich in den letzten Jahren Anfragen von Angehörigen, die bei mir landeten, an ihn weitergeleitet in dem Wissen, dass Robert sich „kümmern“ würde.
Und vor allem und nicht zuletzt Dank an den Projektinitiator Reinald Purmann vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Berlin, der als mein geschätzter Ratgeber und langjähriger Wegbegleiter hin zum realen Gedenk- und Erinnerungsort an der Tiergartenstraße 4 unschätzbare Anstöße und Hilfestellung für wichtige Aktivitäten gegeben hat. Dabei ist er viel zu oft bescheiden im Hintergrund geblieben.
Sigrid Falkenstein Berlin, den 7.11.2021